Die Strömung trug sie jedoch nur sehr langsam fort. Der Profos wurde schon ungeduldig, aber er beherrschte sich. Immer wieder hielten sie Ausschau, doch offenbar hatten die Indianer nichts bemerkt, was den Profos zu einem hinterhältigen Grinsen veranlaßte.
„Die Knaben werden sich wundern, wenn sie morgen in leere Fleischtöpfe gucken“, sagte er grinsend. „Da haben sie dann nur ihre Mohrrüben und Sellerie drin und ein bißchen Wasser. Ich verstehe nicht, daß diese ausgekochten Naturburschen nichts gemerkt haben.“
Der Kutscher räusperte sich, sagte dann aber doch nichts.
„Du willst doch sicher etwas sagen“, murmelte Carberry. „Freu dich lieber, daß wir die Kerle überlistet haben.“
„Es ist mir nicht ganz geheuer“, sagte der Kutscher schließlich. „Das ging mir alles viel zu glatt. Ich habe ständig das Gefühl, von hundert unsichtbaren Augen belauert zu werden.“
„Dann hätten sie längst etwas unternommen. Greift jetzt zu den Paddeln, Männer, damit wir diese Runde hinter uns bringen.“
Mit den sechs Paddeln ging es jetzt rascher. Als der Profos sich einmal umdrehte, waren die Pfahlbauten der Arawak-Indianer in der Dunkelheit verschwunden.
Sie grinsten vor sich hin. Bald hatten sie es geschafft.
Immer noch war der Himmel von schnelljagenden Wolken bedeckt. Um sie herum waren undefinierbare Geräusche. Da kreischte und sägte es, da war ein leises Pfeifen oder ein Jaulen zu hören.
Der Kutscher nahm an, daß es sich um Indianer handelte, die sich über Tierlaute verständigten. Old O’Flynn hielt die Geräusche für die geheimnisvollen Laute der Chickcharnies, die irgendwo durchs Geäst turnten, um sie mit ihren Tönen zu erschrecken. Der Profos fühlte sich auch nicht ganz wohl, dachte aber nicht mehr an Indianer. Aber etwas anderes beunruhigte ihn augenblicklich, und das sagte er auch.
„Verflixt, daß wir ausgerechnet heute nichts sehen können, ist schon mehr als übel. Wir können nicht einmal die Richtung bestimmen. Ich sehe nur pechschwarzes Wasser und ein paar Schatten. Wie war das denn nur, als uns die Kerle in das Dorf brachten?“
„Da haben wir auch nicht viel mehr gesehen“, sagte der Kutscher. „Mir fehlt die Orientierung ebenfalls. Ich weiß nur, daß ich von der ‚Empress‘ aus den Creek gesehen habe, den ich als Peilpunkt gewählt hatte.“
„Das weiß ich auch noch“, brummte Carberry. „An Backbord war es eine kleine Insel, auf der ein knorriger Baum stand, der so aussah, als hätte ihn ein Blitzschlag gespalten. An Steuerbord an der Südküste war es ein Creek, der sich in das Fahrwasser ergoß. In dem Peilpunkt saßen wir fest.“
„Sitzen wir noch immer fest, nehme ich jedenfalls an“, korrigierte der Kutscher. „In diesen Creek haben uns die Kanus gebracht, und da ging es mit kräftigem Paddelschlag aufwärts. Doch dann begann ein Gewirr von Flußläufen, und da haben wir den Überblick verloren.“
Niemand wußte genau, wo sie sich befanden. Alles war fremd, dunkel oder schwarz und geheimnisvoll.
Etwas später gab der Profos sich allerdings sehr gelassen.
„Navigieren wir frei nach Schnauze weiter“, meinte er. „Uns kann gar nichts passieren, denn schließlich fließt jeder Bach auch einmal ins Meer. Sogar kleine Flußläufe pflegen das zu tun. Sind wir aber erst einmal im Meer, dann sieht alles ganz anders aus.“
„Das ist richtig“, sagte Martin. „Einmal müssen uns die Flußläufe irgendwo abladen, und das kann am Meer sein.“
Die Luft war immer noch schwül und stickig. Aus der Dunkelheit schwirrten winzige Stechmücken heran, die ihnen hart zusetzten. Unter dem großen Kanu gluckerte leise das schwarze Wasser, während über ihnen der Himmel noch schwärzer und die Wolkenbänke noch dicker wurden.
Sie kannten das schon. Gleich würde wieder ein Platzregen niedergehen.
Sie starrten in die Dunkelheit, paddelten weiter und unterhielten sich dabei. Sie trieben auf dem Creek dahin und lauschten den vielfältigen Geräuschen des nächtlichen Dschungels.
Dann kam der Regen. Er kündigte sich mit einem leisen, fast klagenden Singen an. Gleich darauf begann es zu rauschen.
Riesige Tropfen klatschten nieder. Aus den Tropfen wurde ein Guß, der ihnen fast den Atem nahm und sie völlig durchnäßte. Sir John schrumpfte immer mehr auf Carberrys Schulter zusammen. Der große Aracanga hockte da wie ein nasser Sperling.
Der Vorhang aus Regen war so dicht, daß sie nicht einmal mehr die Umrisse ihrer Gestalten erkennen konnten. Aber der Regenschauer war kühl und wirkte ungemein erfrischend.
Als er vorbei war, paddelten sie in einer Suppe aus dickem Nebel, umgeben von wallenden Schleiern, die über dem Fluß hingen. Der Nebel verflüchtigte sich nur sehr zögernd. Immer wieder griffen spinnige Arme nach dem Kanu und hüllten es ein.
„Wenigstens ist es etwas kühler geworden“, sagte Nils Larsen. „Ich hätte nichts gegen einen zweiten Schauer einzuwenden. Und auch die verdammten Moskitos sind endlich verschwunden.“
Eine Stunde verging, dann eine weitere, wie sie schätzten. In dieser nächtlichen Monotonie auf dem einsamen Fluß hatten sie außer der Orientierung auch noch das Zeitgefühl verloren.
„Etwa zwei Stunden dürften wir schätzungsweise unterwegs sein“, meinte der Kutscher nach einer Weile. „Eine halbe Stunde hat etwa unsere Abreise gedauert. Dann dürfte es spätestens in einer Stunde zu dämmern beginnen. Dann wird uns auch die Orientierung etwas leichter fallen.“
„Richtig“, sagte der Profos sarkastisch, „und spätestens dann werden die Kesselkocher etwas gerochen haben und die Verfolgung aufnehmen. Aber bis dahin sind wir längst in Sicherheit.“
„Wenn wir erst auf der ‚Empress‘ sind“, sagte Old O’Flynn, „dann sollen sie nur antanzen in ihren Kanus. Ich werde es ihnen schon besorgen.“
„Klar, mit leergesoffenen Rumbuddeln“, sagte Carberry, „damit hast du es ihnen ja schon einmal besorgt – oder sie uns, wenn man das ganz genau ausdrücken will.“
„Hört endlich mit eurer läppischen Streiterei auf“, bat der Kutscher, „das ist ja nun alles hinlänglich bekannt. Daran ist auch nichts mehr zu ändern. Es ist aber durchaus möglich, daß uns die Arawaks bei Beginn der Dämmerung folgen werden.“
„Wir können ja einen Schlag zulegen“, sagte Martin. „Das Kanu bewegt sich leicht und schnell. Auf die Art können wir noch einen Vorsprung herausschinden.“
Das fand auch der Profos gut, und so hieben sie die Paddel wie die Wilden ins Wasser. Das Kanu jagte nur so über den Creek dahin.
Doch schon nach einigen Minuten wurde die schnelle Paddelei sehr schweißtreibend, denn die stickige Hitze legte sich wieder wie ein feuchter Schwamm über sie und wirkte ermattend. Daher paddelten sie im vorherigen Rhythmus etwas langsamer weiter.
Ein neuer Schauer brachte nochmals eine halbe Stunde später weitere und willkommene Erfrischung. Er zog über sie hin wie eine Wand aus Wasser. Dann rauschte der Schauer weiter und regnete über den Wäldern ab. Ein einziger hallender Donnerschlag begleitete ihn – und ein lilafarbener Blitz, der im Zickzack über den Himmel jagte.
Bei dem lilafarbenen Blitz zuckte Old O’Flynn so heftig zusammen, als hätte der ihn selbst getroffen. Er war gerade wieder in die Geisterwelt der Chickcharnies abgeentert und fuhr mit einem leisen Schrei hoch.
Martin kriegte ihn gerade noch am Arm zu fassen, sonst wäre der Alte über Stag gegangen.
„Was ist denn los?“ fragte der Bootsmann.
„Da waren leuchtende Augen“, stammelte Old Donegal entsetzt. „Sie haben mich ganz scharf angeglotzt. Das war ein Vampir oder ein anderer Drache, wie der Kutscher gestern gesagt hat. Und gedonnert hat er auch.“
„Das war ein Blitz“, sagte der Kutscher, „und kein Geist oder gar Vampir. Und gewöhnlich folgt dem Blitz auch der Donner, das ist ganz normal. Aber du hast sicher gerade gedöst und wieder alles in den falschen Hals gekriegt.“
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