Old O’Flynn wischte sich mit der Hand das Wasser aus dem Gesicht und starrte mit brennenden Augen dorthin, wo ihn die „leuchtenden Augen“ angeglotzt hatten. Wieder spürte er das Unheimliche dieser Nacht, die einsame Fahrt, hörte das Quaken von Fröschen, die anderen Geräusche und sah die Schatten um sich herum.
„Aber er hat gedonnert“, behauptete er.
„War vielleicht ein Drache, der ’ne Blähung hatte“, meinte der Profos grinsend. „So wie mein Eselchen auch, der Diego, der donnerte öfter mal. Mann, das war ein ganz normaler Blitz.“
„Na, ich weiß nicht“, sagte Old Donegal unbehaglich. So richtig wollte er das nicht glauben, dazu war diese Insel zu unheimlich. Da gab man sich nicht mit einem normalen Blitz zufrieden, wenn es vor Geistern nur so wimmelte.
Er war jetzt hellwach und versuchte, mit seinen Blicken die Finsternis zu durchdringen. Und alle Augenblicke glaubte er, es irgendwo am Land rötlich aufblitzen zu sehen.
Der Kutscher bedauerte erneut lebhaft, so viel über die Inselgeister erzählt zu haben, denn das war für den abergläubischen Kerl jedesmal Wasser auf seine Mühle. Der zog sich richtig daran hoch und kriegte es fertig, noch ein paar Geister zu erfinden.
Doch auch diese Flußfahrt hatte einmal ein Ende. Die Dunkelheit wich einem tristen Grau.
Sie befanden sich gerade unter einem gewaltigen Blätterdach, wo der Creek nur ganz schmal war. Auf ihre Köpfe tropfte es noch, und sie zogen das Genick ein, als die Blätter sie streiften.
„Ha, wir haben es geschafft“, sagte der Profos, „wir sind da!“
Was er als „da“ definierte, war allerdings nur kurze Zeit ein Anlaß zum Jubeln.
„Das Meer“, sagte Nils Larsen andächtig. „Jetzt finden wir auch bald unser Schiffchen wieder.“
Alle starrten sich jetzt die Augen aus, um auf das Meer zu blicken. Eine bleigraue, noch immer etwas finstere Wasserfläche lag vor ihnen. Der Creek spie sie aus, aber nicht ins Meer, denn das war eine durch die Dämmerung hervorgerufene optische Täuschung, sondern in einen See von allerdings beachtlichen Ausmaßen. So schien es jedenfalls.
Die Strömung wurde immer schwächer, als sie das Paddeln einstellten und sich treiben ließen. Es ging kaum noch vorwärts.
Der Profos blickte sich aus zusammengekniffenen Lidern um, als könne er so besser das Dämmerlicht durchdringen. Auch der Kutscher wandte langsam den Kopf, um die Umgebung erkennen zu können.
Da war ein Kreischen und Schnattern zu hören, ein Zetern und Krakeelen, als würden sich ganze Vogelschwärme gestört fühlen.
„Flamingos“, sagte der Kutscher leise und enttäuscht, „und da vorn ist das ‚Meer‘ zu Ende.“
Old O’Flynn sah natürlich keine Flamingos, sondern rosafarbene Elfen, die auf endlos langen Beinen durch sumpfiges Wasser stelzten, aus feuerroten Augen blickten und dabei hämisch kicherten.
Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber da entzog sich alles ihren Blicken und wurde dunkelgrau.
Ein neuer Platzregen prasselte mit aller Macht nieder und durchnäßte sie erneut von oben bis unten. Alles verschwamm vor ihren Blicken, und nach jedem Schauer stiegen wieder Nebel aus dem Wasser auf.
Bei dem Regen hörte auch das Kreischen und Schnattern auf. Als dann die Sicht etwas besser wurde, lag vor ihren Blicken ein fast undurchdringlich scheinender Tropenwald, aus dem es dampfte. Dieser Dschungel begrenzte den See von allen Seiten.
Rechts von ihnen standen immer noch die rosafarbenen Flamingos vor einer total verfilzten Kulisse aus Mangroven. Es war eine riesige Kolonie, so viele, wie sie noch nie auf einmal gesehen hatten.
Das Gekreische und Geschnatter nahm an Heftigkeit zu und wurde zu einer wilden Kakophonie aus Tönen.
Dann erhob sich kreischend eine bunte Wolke aus Hunderten von Vögeln und strich über den Dschungel ab. Auch der Rest rannte flügelschlagend durchs Wasser und schwang sich unter nervtötendem Kreischen in den Himmel.
Sie starrten den Flamingos nach, blickten sich gegenseitig an und sahen dann wieder zu der üppig wuchernden Vegetation.
„Ein Binnensee“, sagte Martin Correa, „mehr ist das nicht. Umwuchert von allen Seiten durch Wälder, Dickicht und Mangroven. Und ich dachte, der Creek führe direkt ins Meer.“
„Das ist allerdings sehr enttäuschend“, gab der Kutscher zu, „obwohl es sehr malerisch aussieht.“
„Darauf kann ich verzichten“, brummte der Profos. „Malerisch oder nicht, wir befinden uns immer noch in der Nähe der Fleischtöpfe und haben uns gehörig verfranzt. Der Tag fängt lieblich an.“
Im Osten begann es blutrot zu leuchten, ein Anblick, der sie – bis auf den Profos – alle in Bann schlug. Da war über dem Dschungel die zarte pastellfarbene Andeutung eines gewaltigen Regenbogens. Er schien die Feuchtigkeit aus dem Wald zu saugen und ließ die Luft flimmern.
Ein paar Wolkenbänke verwehten fast übergangslos zu langen Strichen, die sich nach und nach auflösten. Irgendwo in weiter Ferne war noch das Kreischen der Flamingos zu hören.
Von den Mangroven mit ihren langen Stelzwurzeln wehte fauliger Modergeruch herüber, den allerdings die aufgehende Sonne vertrieb. Ein leiser Windhauch fuhr über den See und kräuselte das Wasser.
„Man muß einer derartigen Lage auch die guten Seiten abgewinnen“, sinnierte der Kutscher. „Der Anblick ist wirklich mehr als faszinierend.“
„Der Anblick eines Ausweges wäre noch faszinierender“, meinte Carberry. „Schließlich sehe ich einen Sonnenaufgang ja nicht zum erstenmal.“
„Es kann aber immer der letzte sein“, widersprach der Kutscher. „Daher sollte man sich ein paar Augenblicke Zeit nehmen, ihn zu genießen. So sehe ich das jedenfalls.“
„Irgendwo achteraus stehen diese Burschen klar bei Kessel, Mohrrüben, Sellerie und kochendem Wasser, und du bist wieder mal am Schwärmen“, sagte Carberry ungehalten. „Ich freue mich ja auch über den Sonnenaufgang, aber wir sind waffenlos und in einer miesen Situation. Deshalb sollten wir die Betrachtungen auf später verschieben und einen Ausweg suchen. Hinzu kommt, daß mich langsam Hunger und Durst plagen. Den Indianern mag es ja ähnlich gehen, aber die sind gewohnt, Menschenknochen abzunagen. Ich mag auch keine Indianer, jedenfalls keine gekochten, sonst hätten wir uns einen mitgenommen.“
„Am Profosfleisch würden die sich eh die Zähne ausbeißen“, meinte der Kutscher ungerührt. „Muskeln und Sehnen – da könnten sie auch auf Shanes Amboß kauen. Das einzige, was bei dir weich ist, ist vermutlich das Gehirn, aber so winzige Kessel haben sie wiederum nicht.“
Der Kutscher grinste den finster blickenden Profos freundlich an.
„Spaß muß sein, Ed. Aber bei meinen Betrachtungen habe ich entdeckt, daß es etwa in südlicher Richtung einen weiteren Creek gibt. Man sieht ihn kaum, er ist durch Dickicht verborgen. Paddeln wir doch mal hin.“
Carberry warf dem Kutscher noch einen wilden Blick zu. Dann nickte er grimmig.
„Na gut. Hoffentlich hast du richtig gesehen, dann vergesse ich die dämliche Bemerkung mit dem weichen Gehirn. Wenn du dich aber geirrt hast, Kutscherlein, dann wird es Zeit, daß ich dich mal wieder kräftig zur Brust nehme, um dein Geschnatter abzustellen.“
„Keine Sorge. Ich bin sicher, daß es hier nicht nur die eine Abzweigung gibt. Man muß nur richtig suchen.“
Wieder wurden die Paddel ins Wasser getaucht. Nils Larsen und sein Freund Sven hielten immer wieder scharfäugig Ausschau nach allen Seiten. Doch es blieb still und ruhig bis auf das Quaken aus den Sümpfen oder weit entferntes Kreischen, das immer noch von den Flamingos stammen mochte.
Die Sonne stieg langsam höher. Der See lag wie erstarrt da, und der faulige Geruch aus den Mangrovenwäldern verstärkte sich. Es wurde auch wieder drückend heiß und schwül.
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