„Deine Worte sind weise, Papalagi“, sagte die Alte wieder. „Mit deiner Hilfe können wir vielleicht schon bald in unsere Hütten zurückkehren. Was schlägst du vor?“
Die Augen des Stammesältesten blickten in das narbige Gesicht des wandernden Mondes. Er sah die Berge der Götter darin, ihre Höhlen und die tiefen Schluchten, die sie dort bewohnten.
„Wir werden uns nicht verstecken“, sagte er leise. „Wir werden uns so verhalten, daß sie uns finden werden. Dann sehen wir weiter. Sie werden den Fautaua-Wasserfall finden, und wir werden ganz in der Nähe sein.“
„Wie willst du wissen, Papalagi, daß sie den Fautaua finden?“
Der alte Mann lächelte über sein runzeliges Gesicht.
„Jeder Fremde würde ihn finden. Man hört ihn sehr weit, und der Fautaua erweckt die Neugier. Man folgt ihm unbewußt, und so findet man ihn auch.“
Ja, dachte die Alte, der weise Papalagi findet auf alles eine Antwort, und sie zweifelte auch nicht an dem, was er sagte. Alles würde so eintreffen, wie der Papalagi es mit den Göttern absprach.
Die meisten schliefen jetzt, und nach einer Weile legte sich auch der Papalagi an jener Stelle hin, wo er die ganze Zeit gesessen hatte.
Gleich darauf schlief auch er unter dem warmen Dach des Himmels.
Als die Sonne aufging, war der Seewolf schon an Deck und sah zum Land hinüber.
Wie ein träges Tier hockte das Wrack der „Kap Hoorn“ immer noch auf dem Sand, und es schien mit jeder Stunde mehr zu verfallen.
Siri-Tong und ein großer Teil der Crew waren ebenfalls an Deck erschienen, um den prachtvollen Morgen zu genießen. Einige hatten es vorgezogen, ohnehin an Deck zu schlafen, und so erwachten auch sie nach und nach.
Hasards Blick wanderte weiter zu den Bergen. Über dem tropischen Bergwald lag noch ein feiner Dunstschleier, den die aufgehende Sonne jedoch schnell vertrieb.
„Ich will versuchen, wie wir gestern schon besprochen haben, mit den Insulanern Kontakt aufzunehmen“, sagte Hasard. „Wir wissen, daß sie in die Berge geflüchtet sind und uns auch von Zeit zu Zeit beobachtet haben. Um sie nicht zu erschrecken, nehme ich Siri-Tong mit. Eine Frau muß hier ganz einfach Vertrauen einflößen. Dan O’Flynn wird uns begleiten, mehr nicht. Wir gehen selbstverständlich unbewaffnet, damit die Insulaner nicht mißtrauisch werden. Alle anderen bleiben vorerst an Bord. Ihr könnt euch die Zeit mit Fischen oder Baden vertreiben, ganz wie ihr Lust habt. Das Kommando hat während meiner Abwesenheit Ben.“
„Was ist, wenn die Insulaner euch schnappen?“ fragte Matt Davies. „Sie wissen bestimmt nicht, was hier gelaufen ist, und es kann ein verdammtes Mißverständnis geben.“
„Das glaube ich nicht. Wenn wir bis morgen früh bei Tagesanbruch nicht zurück sind, überlasse ich euch die Entscheidung.“
„So lange?“ fragte Smoky.
„Der Aufstieg in die Berge wird nicht einfach sein, und die Insulaner werden ganz sicher nicht hinter der nächsten Palme auf uns warten. Wir müssen uns also etwas gedulden. Nach allem, was sie vermutlich gesehen haben, werden sie uns nicht gerade freundlich um den Hals fallen.“
„Und wie sieht es mit der Verständigung aus?“ wollte Ben wissen.
Hasard winkte lässig ab.
„Wir haben uns sogar mit den Inuits, den Nordmännern, und auch mit Kopfjägern verständigt. Die Sprache bildet da nicht unbedingt die einzige Schwierigkeit.“
Er wollte die Rote Korsarin fragen, ob ihr der Weg nicht vielleicht doch zu beschwerlich wäre, aber er ließ es lieber. Was war Siri-Tong schon beschwerlich? Er wußte nichts.
Die Zwillinge erschienen und wollten auch mit. Aber das war ausgeschlossen, es ging nicht. Wer wußte, was Hasard und Philip unterwegs alles wieder anstellten.
„Noch eine Frage, Sir“, sagte Pete Ballie. „Angenommen, ihr seid irgendwo da oben in den Bergen, und dieser verdammte Don Alfredo oder ein anderer Spanier kreuzt hier plötzlich auf – was dann?“
Hasard lächelte, daß seine weißen Zähne blitzten.
„Erstens hat Ben das Kommando und entscheidet, was zu tun ist. Zweitens werden wir das Schiff eher sehen als ihr. Drittens werdet ihr Don Alfredo die ‚Isabella‘ ausliefern und euch alle kampflos ergeben. Ist sonst noch etwas, Pete?“
„Nein, Sir“, sagte der Rudergänger und grinste.
„Nach dem Frühstück brechen wir auf. Ed wird uns an Land bringen“, sagte der Seewolf.
Das Frühstück war schon fertig, und sie alle verzichteten darauf, es im Aufenthaltsraum einzunehmen. Das Deck war bei diesem herrlichen Wetter genau der richtige Platz dafür.
Der Kutscher brachte Pfannen voller Speck und gebackener Tomaten. Dazu gab es heißes Brot, Mus und wilden Honig. Danach folgte mit Kandiszucker gesüßter kalter Tee, den sie immer noch aus dem Land des Großen Chan massenweise mit sich führten. Eine andere Pfanne enthielt in Fett geröstete Maiskolben.
Die hungrige Meute langte kräftig zu wie immer, und die Zwillinge hieben wie die Bären in den Honig rein.
Anschließend schleppte Carberry die beiden zu einer Pütz voll Seewasser.
„Da steckt ihr jetzt erst einmal eure Griffel rein“, sagte er, „sonst klebt ihr an Deck an und bleibt für alle Zeiten auf den Planken stehen.“
Es stimmte. Die beiden klebten und pappten, und der Honig troff von ihren Fingern und aus den Gesichtern.
Anschließend brachen der Seewolf, Siri-Tong und Dan O’Flynn auf.
Sie nahmen nichts mit, nur ein paar Messer und einen Ballen bunter Seidenstoffe, die ebenfalls noch aus China stammten und deren Farbe das Herz jedes Insulaners höher schlagen ließ.
Lebensmittel brauchten sie nicht, Wasser ebenfalls nicht. Die Insel hatte der liebe Gott in einer ausgesprochen guten Laune erschaffen, und sie bot alles an, was es an Früchten gab. Auch Trinkwasser war reichlich vorhanden.
Am Strand verabschiedete sich der Profos mit Leichenbittermiene. „Soll ich euch ein Stück begleiten, oder schafft ihr das allein?“
„Ja“, sagte Hasard.
„Fein, dann gehe ich mit“, sagte Ed strahlend.
„Das bezog sich auf das letztere, Ed. Wir schaffen es allein, ich glaube nicht, daß du uns tragen mußt.“
Er klopfte dem Profos noch einmal auf die Schulter und suchte nach einem günstigen Aufstieg in die allmählich anwachsenden Berge.
Es fand sich auch bald ein fast verborgener Pfad, den Dan sofort entdeckte. Er hatte schon gestern durch das Spektiv einen kleinen Bachlauf gesehen.
Es wurde wärmer, die Sonne stieg höher.
Über den Inselbergen begann es wieder zu dampfen, am Horizont tauchte eine Wand aus Watte auf, die aber nicht weiterwanderte.
Einmal kreischte ein Papagei, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte. Er kreischte lauter, stieg dann auf und flatterte protestierend davon. Er war kleiner als Sir John, der auf der „Isabella“ auf den Rahnock hockte, aber dafür war er bunter.
Mitunter hörte der Pfad abrupt auf und ging in dichtbewachsene Wildnis über. Aber sie orientierten sich an dem leisen Murmeln des kleinen Baches, der aus den Bergen floß.
Nach einer knappen Stunde Marsch lag die „Isabella“ tief unter ihnen wie das Spielzeug eines Kindes. Das Schiff sah aus dieser Höhe schlank und zerbrechlich aus, die Masten wirkten wie Zahnstocher.
Siri-Tong war nichts anzumerken. Sie atmete nicht heftiger als sonst, und für Hasard und Dan war es nicht viel mehr als ein größerer Spaziergang.
„Ein herrlicher Ausblick“, schwärmte Dan und blieb stehen. Sie konnten jetzt einen großen Teil der Insel überblicken und bis hinüber nach Mooréa schauen.
Vor ihnen lag ein landschaftliches Paradies von einmaliger Schönheit, ein Geschenk der Natur.
Als Dan sich wieder umdrehte, stieß Siri-Tong einen leisen Schrei aus und ging zwei Schritte zurück.
Hasard griff zu einem der Messer, die sie den Insulanern schenken wollten, aber er sah niemanden.
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