Der Riese schüttelte den Kopf.
„Ohne Boote müßten wir verhungern“, sagte er. „Wir könnten nicht mehr zum Fischfang hinausfahren. Es tut uns leid, aber ihr müßt es in Saint Malo oder in Dinant versuchen.“
Das Lächeln war aus Le Testus langem Gesicht verschwunden.
Er legte den Kopf etwas schief und sagte: „Wir haben aber leider nicht so viel Zeit, daß wir nach Saint Malo marschieren könnten. Wir werden uns die Boote leihen, und ich möchte den sehen, der uns davon zurückhalten will!“
Der Riese trat einen Schritt vor. Noch hatte er die muskelbepackten Arme vor der Brust verschränkt. In seinen hellen Augen war ein gefährliches Funkeln. Er schüttelte bestimmt den Kopf.
„Ihr werdet die Boote nur über meine Leiche kriegen“, sagte er mit grollender Stimme.
„Das ist kein schlechter Vorschlag“, sagte Le Testu kalt, hob den rechten Arm mit der Pistole und schoß auf den Riesen.
Die Kugel schlug knapp oberhalb der verschränkten Arme in die linke Brustseite des Mannes, dessen Augen sich vor Entsetzen weiteten. Er ließ die Arme sinken und starrte an sich hinunter. Sein gestreiftes Leinenhemd sog sich mit seinem Blut voll.
Dennoch schwankte die Gestalt nicht ein bißchen. Die blauen Augen, in denen Überraschung, Schmerz und Zorn standen, richteten sich auf Le Testu, der ein bißchen bleich um die Nase wurde, als er sah, daß seine Kugel den Mann nicht einmal hatte erschüttern können.
Instinktiv trat der Wegelagerer einen Schritt zurück.
In diesem Augenblick schoß auch Montbars, und dessen Kugel zwang den Riesen auf die Knie.
Schreie aus Männerkehlen hallten plötzlich über den kleinen Platz. Aus einem der Häuser hastete eine Frau in einem schwarzen Kleid und warf sich vor dem Riesen auf die Knie. Sie umschlang den wie gelähmten Mann, drehte den Kopf zu Le Testu und schrie: „Mörder! Mörder!“
Die Fischer wollten auf Le Testu und Montbars losgehen, doch da tauchten von allen Seiten die schwerbewaffneten Piraten auf. Das Sonnenlicht glitzerte auf den Säbeln und Messern.
Die Fischer blieben stehen und starrten in ohnmächtiger Wut auf die vielen Musketen, die auf sie gerichtet waren. Sie wußten, daß sie gegen die Piraten nichts unternehmen durften, wenn sie ein Blutbad in ihrem Dorf vermeiden wollten.
So verhielten sie sich still, als die ersten Männer zum Strand hinuntergingen. Sie sahen, wie ein Esel, der mit Waffen vollgepackt war, zu den Booten gezerrt wurde. Sofort begannen einige Piraten, die Waffen in eins der Boote umzuladen.
Auch Le Testu und Montbars zogen sich langsam zurück. Sie hatten keinen Blick mehr für den Riesen, der jetzt auf der Seite lag und sich nicht mehr rührte. Er hatte es nicht anders gewollt. Wäre er in seinem Haus geblieben, hätte er jetzt noch am Leben sein können.
Ferris Tucker fluchte, als einer seiner beiden Wächter ihm die Mündung seiner Pistole in den Rücken stieß. Am liebsten hätte er ausgeholt und ihm mit den gefesselten Händen eine verpaßt, daß er sich überschlagen hätte.
Aber dann fiel sein Blick zu dem kleinen Platz des Dorfes hinüber, und er sah die Menge, die sich um jemanden scharte. Er hatte die Schüsse, die in gewissem Abstand gefallen waren, vernommen, und nun konnte er sich denken, was geschehen war. Einer der Piraten hatte einen Fischer über den Haufen geknallt.
Sie zerrten Ferris zu den Booten am Strand. Die meisten Piraten saßen schon in den Booten und pullten durch die Bucht aufs offene Meer hinaus. Der Esel lief laut schreiend auf das Dorf zu.
Le Testu, der neben dem letzten Boot stand, brüllte zu den Fischern hinüber: „Einen Esel für sieben Boote, ist das kein Geschäft?“ Er lachte dröhnend und vollführte eine obszöne Geste, als ihm die Männer von den Häusern herüberdrohten. Dann wandte er sich an Ferris Tucker.
„Los, rein ins Boot“, sagte er scharf.
Ferris hob ihm die gefesselten Hände entgegen.
„So kann ich mich schlecht bewegen“, sagte er.
Le Testu starrte ihn mißtrauisch an.
„Gut“, erwiderte er schließlich. „Ich binde dich los, Engländer. Aber du kannst sicher sein, daß du wie der Fischer da hinten an einer Kugel krepierst, wenn du auch nur versuchst, gegen einen von uns deine Faust zu erheben!“
Ferris Tucker nickte und dachte: Quatsch nur, du Affe. Ich werde den richtigen Augenblick schon nicht versäumen.
Auf einen Wink Le Testus hin wurden Ferris die Lederriemen abgenommen. Ein Prickeln lief durch seine Hände, als die Blutzufuhr wieder einsetzte. Er rieb sich die Handgelenke, und als er einen Stoß in den Rücken erhielt, bequemte er sich, ins Boot zu klettern.
Die letzten Piraten schoben das Boot vom Strand ins Wasser, wateten noch ein Stück und sprangen dann ebenfalls hinein.
Le Testu hatte Ferris einen Platz auf der vorderen Ducht angewiesen und ihm befohlen, sich einen Riemen zu nehmen und zu pullen.
Ferris war das nur recht. Ein bißchen Bewegung konnte nie schaden, und er wollte schließlich nicht steif sein, wenn er die Flucht wagte.
Sie hatte es als einzige geschafft, den Ring der Piraten zu durchbrechen. Ihr Atem ging keuchend, aber sie verringerte ihre Laufgeschwindigkeit nicht. Sie wußte, daß sie schnell sein mußte, wenn sie ihrem Dorf helfen wollte.
Sie hatte sich in einer kleinen Hütte außerhalb des Dorfes aufgehalten und gerade ihre Ziege gemolken, als die wüst aussehenden Kerle an ihrer Hütte vorbei ins Dorf eingedrungen waren. Sie hatte den lauten Stimmen gelauscht, und als sie vernommen hatte, daß die Piraten es auf die Boote des Dorfes abgesehen hatten, war ihr klar geworden, daß sie Hilfe brauchten. Sie war aus ihrer Hütte geschlichen, als ob der Teufel hinter ihr her sei.
Sie wußte, daß sie mindestens zwei Stunden brauchte, bis sie das nächste Dorf erreichte, aber darüber dachte sie nicht nach. Tränen liefen ihr aus den Augen. Immer wieder mußte sie an die beiden Schüsse denken, die gefallen waren. Sicher waren sie von den Piraten abgegeben worden und hatten einen aus ihrem Dorf getroffen.
Ihr Atem wurde immer keuchender, als sie die Männer sah, die in einer langen Reihe auf sie zumarschierten. Sie hätte schreien können vor Freude, aber sie brachte keinen Ton hervor.
Taumelnd lief sie auf die Männer zu, und als sie sie fast erreicht hatte, brach sie schluchzend in die Knie. Sie sah ein von Wind und Wetter gebräuntes, freundliches Gesicht vor sich und stieß hervor: „Monsieur, Sie müssen meinem Dorf helfen!“
Der Seewolf, der das Mädchen schon von weitem gesehen hatte, zog es an den Schultern auf die Beine.
„Piraten?“ fragte er nur.
Es dauerte eine Weile, bis sie nickte. Sie hatte an seinem Akzent gehört, daß er kein Franzose war, und nun musterte sie die Männer, die sie um Hilfe gebeten hatte, genauer.
Ihre Freude war aus ihrem Gesicht verschwunden, aber sie wußte, daß nur diese Männer ihrem Dorf noch helfen konnten.
„Sie haben unser Dorf überfallen und wollten unsere Boote stehlen“, sagte sie leise. „Ich bin davongelaufen, um Hilfe zu holen, denn gegen die Waffen der Piraten können unsere Männer nicht kämpfen.“
„Wie weit ist Ihr Dorf entfernt?“ fragte Hasard.
„Ich bin fast eine Stunde gelaufen“, erwiderte sie keuchend. Sie rang immer noch nach Atem. „Als ich davonlief, hörte ich zwei Schüsse. Mein Gott, wenn sie nur niemanden getötet haben!“
Sie hielten sich nicht lange auf. Hasard versprach dem Mädchen, ihr Dorf gegen die Piraten zu verteidigen, wenn sie es noch rechtzeitig erreichten. Er wußte, welche Bedeutung die Boote für die Fischer hatten. Einen anderen Broterwerb als den Fischfang gab es für sie nicht.
Das Mädchen hatte ihm der Himmel geschickt. Seit der alten Fischerhütte hatten sie nichts mehr von den Spuren der Piraten entdecken können. Jetzt aber wußten sie, wo die Kerle steckten, die Ferris Tucker in ihrer Gewalt hatten.
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