Die hole ich nie wieder ein, dachte er wütend und setzte seine Kletterei fort.
Dann hatte er den Rand des Steilhanges erreicht. Als er den Kopf über den Rand schob, kriegte er einen gewaltigen Schrecken.
Zwei große braune Augen starrten ihn aus einem länglichen grauen Gesicht an. Dann blähten sich die Nüstern, und ein lautes „Määäh“ dröhnte ihm in den Ohren.
Hastig zog er sich hoch und sprang auf die Beine. Das Schaf glotzte ihn an. Er hörte das scharfe Gebell und zog seine Axt aus dem Gürtel. Ein Collie hetzte auf ihn zu und kläffte ihn wütend an. Der Hund jagte das Schaf zurück zur Herde, dann kehrte er um und blieb knurrend und lauernd vor Ferris stehen.
Ein schriller Pfiff rief ihn zurück.
Ferris sah hinter der Herde einen Mann. Er hob die Hände zum Gruß. Der Mann erwiderte die Geste, und Ferris ging zu ihm hinüber. Er wurde von dem Schäfer mißtrauisch betrachtet. Immer wieder glitt der Blick des Bretonen zu Ferris’ Axt, die er zurück in den Gürtel gesteckt hatte.
Mit Händen und Füßen versuchte Ferris, dem Mann zu erklären, was ihm geschehen war, aber der verstand nur Brathering. Auf einmal ging jedoch ein Leuchten über sein Gesicht, und zwar, als Ferris auf Englisch zu fluchen begann.
Er wies mit ausgestrecktem Arm nach Osten.
„Anglais! Anglais!“ rief er immer wieder.
Engländer? dachte Ferris. Hatte der Kerl die beiden Galeonen in der Bucht von Sillon de Talbert gesehen und sie als englische Schiffe erkannt?
„Bateau?“ fragte Ferris.
Der Bretone schüttelte den Kopf.
„Hommes anglais“, sagte er. Seine Aussprache war fürchterlich. Wahrscheinlich sprach er noch weniger Französisch als Ferris, wie die meisten Bretonen.
Englische Männer, dachte Ferris. Mein Gott, meinte er vielleicht Hasard und seine anderen Kameraden? Waren sie der Fährte der Piraten gefolgt, um ihn zu befreien?
„Wo?“ stieß er auf Französisch hervor. „Wie viele Stunden?“ Er hielt dem Schäfer seine rechte Hand entgegen, damit dieser ihm an seinen Fingern die Anzahl der Stunden zeigen konnte, vor denen er die Engländer gesehen hatte.
Der Bretone bog den Zeigefinger von Ferris, und der verstand. Er hätte am liebsten vor Begeisterung laut gebrüllt. Eine halbe Stunde vor ihm!
„Merci!“ rief er und begann schon zu laufen. Die Aussicht, seine Kameraden so bald schon wiederzusehen, verlieh ihm neue Kräfte. Mit weitausholenden Schritten brachte er die beiden ersten Meilen hinter sich, aber als er dann immer noch nichts von Hasard und den anderen sah, begann er unterdrückt zu fluchen.
Dann dachte er daran, daß Hasard vielleicht in dem Fischerdorf erfahren hatte, daß die Piraten mit den Booten ostwärts aus der Bucht gesegelt waren, und er hatte sich denken müssen, was sie im Schilde führten. Also hatte Hasard ein höllisches Tempo vorgelegt, um noch rechtzeitig in der Bucht von Sillon de Talbert aufzutauchen, bevor die Piraten Ben Brighton oder George Baxter überraschen konnten.
Ferris begann zu laufen. Das Seitenstechen brachte ihn fast um, aber dann war es von einem Moment zum anderen verschwunden. Er spürte seine Füße schon nicht mehr, als er endlich weit vor sich ein paar Punkte sah.
Keuchend blieb er stehen und starrte hinüber. Kein Zweifel, das mußte eine Gruppe von Männern sein. Ferris schätzte sie auf ungefähr zwanzig.
Das können sie sein, wenn Terry und seine Leute bei Hasard sind, dachte er.
Er begann wieder zu laufen, bis ihm die Zunge heraushing. Sein breiter Brustkasten hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Er wollte brüllen, aber er hatte sich so sehr verausgabt, daß er nur noch ein heiseres Krächzen hervorbrachte.
Dann erkannte er, daß die Männer stehengeblieben waren. Einer von ihnen fuchtelte mit den Armen, und dann lief ihm jemand entgegen.
Hölle und Haferbrei! dachte Ferris Tucker erleichtert. Endlich haben die verdammten Kerle mich bemerkt!
Er setzte sich wieder in Bewegung. Die ersten Schritte ging er wie auf Eiern, dann taumelte er Dan O’Flynn entgegen, der ihn mit seinen Adleraugen als erster erkannt hatte.
„Ferris, verdammt!“ brüllte Dan ihm entgegen. „Wie bist du den Teufeln entwischt?“
Ferris Tucker wartete, bis Dan bei ihm war und ihm den Arm unter die Achsel schob, um ihn zu stützen.
„Keine langen Reden jetzt“, sagte er keuchend. „Bring mich zu Hasard. Ich hab ihm eine Menge zu erzählen.“
Er sah die Freude in den Augen seiner Kameraden, als sie ihn lebend wiedersahen, und es tat seinem Herzen wohl. Doch dann berichtete er Hasard, was die Piraten planten, und ihre Gesichter wurden wieder ernst.
„Wir müssen die ganze Nacht durchmarschieren“, sagte Hasard schließlich gepreßt. „Dennoch werden wir die Bucht nicht vor dem Morgengrauen erreichen.“
„Können wir Ben und Baxter nicht mit einem Musketenschuß warnen?“ fragte Carberry grollend.
Hasard schüttelte den Kopf.
„Jeder in die Luft abgefeuerte Schuß würde sie nur irritieren“, erwiderte er. „Woher sollen sie wissen, daß wir sie warnen wollen? Vielleicht nehmen sie dann an, daß wir an Land in einen Kampf verwickelt sind, und richten ihre Aufmerksamkeit auf die Küste, statt auf ihr Schiff. Nein, wir können sie nicht warnen. Wir müssen so schnell wie möglich zu unseren Booten zurück, damit wir eventuell noch in den Kampf eingreifen können.“
„Endlich mal ein paar vernünftigen Vorschläge“, ließ sich Easton Terry vernehmen. „Auf diesen Gedanken hätten Sie allerdings schon am Morgen verfallen können, Mister Killigrew. Mir scheint, Sie sollten mehr auf die Cleverness Ihrer Leute vertrauen, statt wie ein Kindermädchen hinter ihnen herzulaufen.“
„Mann!“ stieß Carberry zornig hervor, und diesmal war Hasard zu langsam, um ihn zurückzuhalten. Ehe jemand sich bewegen konnte, hatte Carberry Terry vorn am Hemd gepackt und hob ihn vom Boden hoch.
„Carberry!“
Hasards scharfe Stimme ließ den Profos zusammenzucken. Er starrte in das blasierte Gesicht Terrys und erkannte in den grauen, kalten Augen des Mannes, daß Hasard ihm mit seiner scharfen Zurechtweisung wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Als er Terry losließ und einen Schritt zurücktrat, sah er seine Vermutung bestätigt. Terry hatte seine Pistole gepackt und die Waffe schon halb aus dem Gürtel gezogen.
„Sie werden sich umgehend für Ihr Verhalten entschuldigen, Profos!“ sagte Hasard scharf.
Im ersten Augenblick fühlte sich Carberry gedemütigt, aber als er Hasard anblickte, erkannte er, daß es für ihn keine andere Wahl gab.
„Entschuldigen Sie, Sir!“ sagte Carberry steif. „Die Pferde sind mit mir durchgegangen.“
Bevor Easton Terry etwas erwidern konnte, sagte Hasard: „Ich werde den Mann für sein Vorgehen züchtigen, Mister Terry. Es wird ein Exempel dafür werden, daß man Ihnen mit dem gebührenden Respekt zu begegnen hat.“
Terry setzte sein abfälliges Lächeln auf. Seine grauen Augen behielten ihre Kälte bei. Terry begriff, daß Hasard ihm mit diesen Worten den Wind aus den Segeln genommen hatte, denn wenn er vorher von ihm gefordert hätte, Carberry wegen seiner Handgreiflichkeit gegen einen Offizier an die Rah zu hängen, hätte Hasard mit mächtigen Schwierigkeiten rechnen müssen, hätte er dieser Bitte nicht entsprochen.
„Ich möchte Sie aber bitten, Mister Terry“, fuhr Hasard kalt fort, „Ihre Provokationen mir und meinen Männern gegenüber zu unterlassen. Denken Sie daran, daß wir gemeinsam eine Aufgabe zu bewältigen haben. Sie sollten Ihre persönliche Animosität mir gegenüber zurückstellen, bis wir unseren Auftrag erledigt haben. Dann stehe ich Ihnen sehr gern zur Verfügung.“
Das war eine offene Herausforderung, und Terrys Lächeln verschwand. Er preßte die Lippen aufeinander und schwieg.
Hasard gab den Befehl zum Aufbruch. Sie durften keine Zeit verschwenden, wenn sie Ben Brighton und George Baxter noch rechtzeitig warnen wollten.
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