Im Frühjahr 2000 kehrte ich mit einer Seminargruppe in Heppenheim für ein paar Stunden in dem Haus ein, in dem Martin Buber bis zu seiner Emigration nach Israel im Jahr 1938 mit seiner Familie gelebt und 1923 sein bekanntestes Werk „Ich und Du“ verfasst hatte. Der Besuch in der heutigen Gedenkstätte berührte mich tief. Während der einwöchigen Seminararbeit lasen wir uns in einer Runde von knapp vierzig Frauen und Männern Stück für Stück aus eben diesem „Ich und Du“ vor, etwa sechs bis achtmal jeden Absatz. Jede und jeder las in der eigenen Tonlage, der eigenen Mundart oder in der Sprache des Herkunftslandes. Zunächst hatten wir Schwierigkeiten mit der Sprache Martin Bubers, da sie uns ungewohnt fremd vorkam. Doch mit der Zeit und fast unmerklich, wurde jedem von uns, ohne [25] die Worte zu analysieren, auf seine Art klar, was sie ihm bedeuteten. Jeder für sich nahm aus ihnen mit, was für ihn wichtig war. Ich spürte, es war mein Verständnis der Worte von Buber und nicht das Verständnis unserer deutsch-israelischen Seminarleitung, es war auch nicht die Interpretation der übrigen 38 Augen- und Ohrenpaare im Raum. Wir lasen nur gemeinsam, ohne uns gegenseitig von unserer Sicht in endlosen Diskussionen überzeugen zu wollen.
Es geschah etwas Merkwürdiges in jenen inspirierenden Tagen im April 2000. Bubers Idee vom „Dialog“, von „Begegnung“, von dem, was er das „Zwischen“ nennt, und von der „Anderheit des Anderen“ bekamen für mich durch das gemeinsame Lesen einen tieferen, ungeahnten Sinn. Aus den Worten Vertrauen, wachsen lassen, achtsam sein, Liebe, den anderen nicht verändern wollen, allein sein, anders sein und Respekt füreinander haben, wurden lebendige Begriffe.
Im Laufe der Jahre flossen bei der Entstehung des vorliegenden Buches nicht nur die Philosophie des Dialogs von Martin Buber, David Bohm, William Isaaks, Peter Senge und Freeman Dhority, Johannes und Martina Hartkemeyer, sondern auch Ansätze der humanistischen Psychologie, der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, des systemischen Denkens, der ressourcenorientierten Konzeption der Salutogenese nach Aaron Antonovsky, der Präventionsansatz der Förderung allgemeiner „Lebenskompetenzen“, der durch Botwin und andere als „Life Skills“-Ansatz bekannt wurde und das Therapiekonzept der „Lebensschule“ von Walther H. Lechler für mich sinngebend zusammen.
Jeder Mensch, dem ich begegne, ist mein Lehrer
Die Konzepte „Salutogenese“, „Life Skills“ und der „Lebensschule“ verbindet der Kerngedanke, dass das Leben selbst, mit all seinen Herausforderungen, die auch Krisen einschließen, die beste „Schule“ zum Erlernen konstruktiver Strategien der Lebensbewältigung ist. Von Walther H. Lechler habe ich gelernt zu sehen, dass letztlich alle Menschen, jeder auf seine Weise, um ihren „richtigen“ Weg durchs Leben ringen, auch und gerade die Menschen, die wir aus pädagogischer Sicht für emotional und sozial inkompetent, für „auffällig“, „süchtig“ oder „krank“ erachten. Erziehung verstanden als Beziehung unter dem Aspekt des Suchens und der Unterstützung der Eltern bei ihren Suchbewegungen zu betrachten, ebnet den Weg zum Dialog. In den Elternrunden geht es im Grunde immer wieder darum, [26] die eigenen Erfahrungen im Meistern des Lebens mit anderen zu teilen und die Erfahrungen anderer zu nutzen.
Der Begriff „Elternschule“, der gerne im Umgang mit Elternkursen genannt wird, ist aus Sicht des Dialogs allerdings unpassend. Mit dem Begriff Schule wird zu häufig Belehren, Bewerten und Sanktionieren von Defiziten assoziiert und löst daher entweder Abwehr oder Langeweile aus. Zum einen kann dies erklären, warum so viele Menschen, die zwar den Austausch mit anderen Eltern bräuchten, dennoch den Elternseminaren fernbleiben und dafür mit dem Etikett „bildungsfern“ stigmatisiert werden. Andererseits befürchte ich, dass bei denen, die den Weg in Elternkurse finden, anstelle von Unsicherheit eine neue Abhängigkeit auf Seiten der Eltern entstehen kann, wenn sie versuchen, die gelernten „Ratschläge“ zu befolgen. Reinhart Wolff spricht in diesem Zusammenhang von „professionellem Autoritarismus“. Die Fachleute lehren, und die Eltern sollen lernen, es gibt ein klares „Subjekt-Objekt-Verhältnis“.
Eltern reflektieren ihren Weg, und im Rahmen dialogischer Seminare tun sie dies gemeinsam mit der Dialogbegleitung. Es geht also weniger darum, dass Eltern und ihre Kinder „erzogen“ werden müssen sondern mehr darum, dass Eltern sich darüber klar werden, dass sie ein Teil dieser Entwicklungsgemeinschaft sind, dass ihr Verhalten auf Kinder wirkt und dass sie selbst auch mitwachsen und lernen müssen. Im Dialog reden wir nicht von Beschulung, sondern von gemeinsamem Lernen von Eltern, Kindern und Fachkräften, die ja oft auch selbst wieder Eltern sind. Insofern findet der Dialog in einer Atmosphäre statt, in der jede und jeder des anderen Lehrer ist und dabei gleichzeitig Lerner bleibt.
Der Dialog ist ein Weg zu einer anderen Form des Miteinanders. Der Prozess des Dialogführens macht deutlich, wie unser Denken durch unsere Emotionen, Wünsche, Absichten, Unterstellungen und Ängste beeinflusst wird. Im Dialog ist Raum für das Aufspüren von Annahmen und Wertvorstellungen, die unserem Handeln zugrunde liegen. Im Dialogkreis kommen wir mit anderen zu uns selbst und erleben unsere Zugehörigkeit zu unseren Mitmenschen. Es geht um das Führen und Geschehenlassen von echten Gesprächen, oder wie Martin Buber sagt um „wahre Begegnung“.
[27] In Kapitel 1gehe ich der Frage nach, wie es gelingen kann, gemeinsam mit Eltern den Schlüssel zur eigenen Stärke und zu den Potenzialen ihrer Kinder zu finden, anstatt permanent nach Fehlern zu fahnden. Im Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten erwachsen Stärke und Zuversicht, die im Beziehungsprozess benötigt werden.
Mit den Merkmalen einer Dialogischen Grundhaltung und dem Wesen des Dialogs sowie seiner Bedeutung für persönliches Wachstum setze ich mich in Kapitel 2ausführlich auseinander. Unter anderem beschreibe ich Dialogische Kernfähigkeiten und wie die Dialogische Haltung erlernt werden kann.
Dialog unter den oben genannten Vorzeichen ist mehr als Wissensvermittlung. Er ist Austausch über die Sachaspekte eines Themas, Erfahrungen und Verhaltensweisen, eigenes Empfinden und Ängste, die Konfrontation mit der eigenen Lebensgeschichte und nicht zuletzt geht es um sinnvolle Lebensperspektiven. Insofern spielt sich das Lernen in der Gruppe auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab, die ich anhand des Konzeptes der „Fünf Ebenen im Dialog“ in Kapitel 3beschreibe. Dialog ist kein Verhaltenstraining, sondern bedeutet Auseinandersetzung mit Beziehung und Begegnung mit sich selbst und eigenen Lebensidealen. Selbst-Erfahrenes und Selbst-Gelerntes stärkt Eltern und ihre Familien langfristig und nachhaltiger, als dies mit referiertem und antrainiertem Wissen der Fall ist.
Seminare über das Zusammenleben mit Kindern drehen sich immer um mehr oder weniger gelingende „Alltags- und Lebensbewältigung“. Naturgemäß macht das Ringen darum, das Leben zu meistern, vor den Dialogbegleitern nicht halt. Auch ihnen bieten die Seminare Raum zum Lernen. Welche Konsequenzen dies für ihre Arbeit im Dialogkreis hat, beschreibe ich in Kapitel 4.
So, wie wir den Dialog in jeder Elterngruppe oder in der Eins-zu-Eins-Beratung neu versuchen, ist jeder Dialog einmalig. Wir konstruieren jeden Augenblick neu in einer wirklichen Begegnung. Indem wir einen sicheren Raum für Verschiedenheit schaffen, können wir die individuell unterschiedlich erlebte „Wirklichkeit“ unserer sozialen Umgebung zulassen und uns vielleicht auch an ihr erfreuen. Zu „benutzen“ ist deshalb das Konzept Dialogischer Elternarbeit wie die „Skizze einer Landkarte“. Wir wissen vorher nicht, wenn wir von A nach B wollen, welche Umleitungen, Hindernisse aber auch abschüssigen Strecken unseren Weg behindern [28] bzw. beschleunigen. Den Weg müssen wir immer wieder neu gehen. Dialogkreise sind immer als Prozess zu verstehen. Beispielhaft beschreibe ich in Kapitel 5zwei Seminarabende, die jederzeit erweitert und variiert werden können.
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