1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Auf den Stationen des Kreuzwegs sah er sie, gespiegelt in den verglasten Bildern von Christus und seinem Leidensweg auf dem Kalvarienberg, alle hinter sich versammelt.
Wenn er sie vom Altar aus betrachtete, machte sich sein grauer Star besonders unangenehm bemerkbar.
Er sah den Erpresser mit kaltem Blick hinter der Mutter mit dem kleinen Kind sitzen, und in den letzten Reihen saß der herzlose Mörder neben dem alten Ehepaar, dessen Söhne alle in Amerika lebten.
Die furchtbaren Verbrechen spukten immer durch seine Gedanken.
Und dann war da Joseph Devine gewesen.
Zu seinem Gesicht, wenn es nachdenklich nach oben zu der Figur am Kreuz gerichtet war, hatte sich Father Fee beinahe zärtlich hingezogen gefühlt. Zu diesem alten Mann, der mit seinem Gewissen rang. Alle Kraft floss in den letzten Kampf gegen die Stimmen in seinem Kopf.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Devines letzter Beichte. Es war ein ungewöhnliches Gespräch zwischen Beichtvater und Beichtendem geworden. Begonnen hatte es damit, dass Devine berichtete, er habe sich nicht über die Taufe der Enkelin eines Freunds freuen können.
»Father, ich habe überhaupt nichts dabei empfunden«, hatte er geflüstert. »Selbst lächeln ist mir schwergefallen. Ich habe es auch nicht über mich gebracht, das Baby im Arm zu halten.«
Father Fee hatte geschwiegen, es wollte ihm keine tröstliche Antwort einfallen. Obwohl sie durch ein Metallgitter getrennt waren, schien Devines Gesicht sehr nah zu sein. In seinem Atem leichter Alkoholgeruch.
»Habe ich denn Grund für meine Befürchtungen?«
»Was sind denn deine Befürchtungen?«
»Dass ich nie meinen Frieden finden werde?«
Die Frage beunruhigte Father Fee. Ehe er antwortete, rieb er sein krankes Auge.
»Warum solltest du keinen Frieden finden? Gottes Gnade ist unerschöpflich. Du musst nichts weiter tun, als vor Gott ein vollständiges Bekenntnis abzulegen.«
»Das tue ich jeden Monat, Father.«
Der Priester schwieg.
Dann sagte er mahnend: »Du erzählst mir nicht die ganze Wahrheit. Du bist heute nicht wegen dieser Taufe zu mir gekommen. Dich plagt etwas anderes. Aber ich weiß nicht, was. Vielleicht schämst du dich zu sehr, um es zu sagen. Ich weiß es nicht. Der Einzige, der das weiß, bist du. Und Gott.«
»Sonst plagt aber nichts mein Gewissen, Father«, entgegnete Devine ein wenig aufsässig.
»Warum bist du dann hier?«
Und dann fielen die Worte, die Father Fee erwartet hatte. Erfreut stellte er fest, dass Scham noch immer eine wirksame Kraft war. Es kam selbstverständlich darauf an, aus welcher Gemeinschaft man stammte und wie viel Bedeutung die Meinung anderer hatte. Aber in diesem Land begegnete man Informanten immer noch mit größter Verachtung. Father Fee hatte sogar Leute sagen hören, dass man seine Nachbarin vergewaltigen konnte und es bald vergessen würde, aber wenn der Großvater Spitzel gewesen war, bliebe man noch als Enkel sein Leben lang Außenseiter.
Im Halbdunkel des Beichtstuhls spürte Father Fee Devines Blick.
»Ich dachte, ich könnte die vergangenen Taten hinter mir lassen, aber die Stimmen verschwinden nicht. Ich habe für die britischen Sicherheitsdienste spioniert. Für Geld. Wegen meiner Informationen kamen Menschen ums Leben.«
Aufmerksam lauschte Father Fee dem Geständnis. Mit einem Seufzer wappnete er sich.
»Wie oft ist das vorgekommen?«
»Öfter, als ich mich daran erinnere.«
»Und empfindest du Reue über deine Taten?«
»Am Anfang ja, da hab ich mich schuldig gefühlt. Da hat mir mein Gewissen keine Ruhe gelassen. Aber allmählich ist die Scham verschwunden. Und es stimmt ja, dass die Männer, die durch meine Mithilfe umkamen, gefährlich und gewalttätig waren. Keiner von denen war unschuldig.«
Den Priester beschlich ein Gefühl tiefer Müdigkeit. Es war, als suchte er krampfhaft nach einem Ausweg aus einem Albtraum.
Devine wartete geduldig auf Absolution durch den Priester, doch statt sie zu erteilen, schloss Father Fee nur die Augen. Der Hunger seiner Gemeinde nach Vergebung von Sünden erschien ihm unersättlich, ein Schlund, den er bis in alle Ewigkeit füttern musste. Sein Mund war trocken, in seinem Kopf pochte es. Der Priester meinte nicht einfach mit der üblichen Formel fortfahren zu können. Licht drang durch den Schlitz unter der Beichtstuhltür. Als er auf seine Hände blickte, bemerkte er überrascht, dass sie zitterten. Vielleicht sollte das die letzte Beichte sein, die ich abnehme, dachte er. Morgen rufe ich den Diözesansekretär an und bitte um meine Versetzung in den Ruhestand.
Schließlich ergriff er doch noch das Wort. »Normalerweise schlage ich zur Buße Gebete vor, aber in deinem Fall weiche ich davon ab. Du bist zu mir um Vergebung gekommen, aber das ist hier nicht so einfach. Ehe ich dich von deinen Sünden lossprechen kann, musst du dafür Buße tun.«
Dann erläuterte er die ungewöhnliche Aufgabe, die ihm als Sühne vorschwebte.
Schließlich segnete er Devine und schloss das Sprechgitter. Die Beichte war beendet. Er hörte, wie Devine stotterte und etwas zu sagen versuchte. Er glich einem Kind, dem keine weiteren Fragen mehr einfielen.
Danach fühlte sich der Priester seltsam beschwingt. Nach Jahren braver Pflichterfüllung, in denen er sich gegenüber dem Willen Gottes hintangestellt hatte, empfand er diese Abweichung vom Beichtritus wie eine Befreiung. Jetzt musste er Männern, die gemordet oder Beihilfe dazu geleistet hatten, das Leben nicht mehr einfach leichter machen.
Vor Devines Leiche redete sich Father Fee ein, dass alles, was geschehen war, Vorsehung war. Selbstverständlich hatte er sich nicht vorstellen können, dass Devine ermordet werden würde, aber in dem Umstand, dass er als Erster bei dem Toten sein durfte, sah er das Walten einer höheren, vielleicht sogar göttlichen Gerechtigkeit. Jetzt konnte er Devine mit den Sterbesakramenten versehen und ihm die Beichte abnehmen.
Der Priester kniete sich auf den Boden und legte dem Mann behutsam die Hand auf die Stirn. Dann sprach er die Worte, die er schon so oft gesprochen hatte.
»Möge Gott, der Allmächtige, dir seine Gnade zuteilwerden lassen, dir deine Sünden vergeben und dir das ewige Leben schenken.«
Das Gebet dauerte nur wenige Sekunden. Danach streifte sein Blick eine alte Hortensie, die vom Gewicht der durchweichten Blüten des Vorjahrs niedergedrückt war. Tief gebeugt waren ihre Zweige, die diese Überfülle an toten Blüten kaum zu tragen vermochten. Er fragte sich, warum die Natur den Strauch seine riesigen Blütenstände nicht abwerfen ließ, wenn sie verblüht waren, um es ihm leichter zu machen. Eine verzweifelte Sehnsucht nach den ersten Frühlingsboten ergriff ihn, nach einem zarten Schneeglöckchenblatt oder einer Blattknospe kurz vor dem Aufbrechen, aber der Strauch taugte dafür nicht, so wenig wie ihm der Ballast, der sich über die Jahre in seinem Kopf angesammelt hatte, half.
Wasser trat in sein krankes Auge, und dann fing auch das gesunde an zu tränen. Devines Leiche verschwamm vor seinem Blick wie ein Dorn, der sich nicht fassen und herausziehen ließ.
Nachdem sie den wackligen Bootsanleger hinter sich gelassen hatten, riet der Fischer Celcius Daly, sich zurückzulehnen und die Landschaft zu genießen. Beim Hinausrudern aus der Mündungsbucht tat sich im Norden die weite Seefläche des Lough Neagh auf, während die Uferlinie immer zerklüfteter wurde. Bald sah Daly die Umrisse von Coney Island, und als das Boot sich der Insel näherte, entdeckte er den verkohlten Eichenstumpf, die ein Blitz in Brand gesetzt hatte. Eine Gruppe von Männern und Frauen, teils in Schutzanzügen, wuselte zwischen den geschwärzten Baumteilen hin und her. Als der Fischer an einer Schilffläche vorbeiruderte, flog eine Seeschwalbe mit zunehmend gereiztem Keckern auf sie zu.
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