Während er am Ufer entlangwanderte, legte er sich einen Plan für die Ermittlungen zurecht und überdachte die einzelnen Schritte. Nach der Spurensicherung am Tatort würden sie damit beginnen, die am Lough lebenden und arbeitenden Menschen zu befragen. Sie würden versuchen herauszufinden, wie der Tote auf die Insel gekommen war und wie die Mörder dorthin gelangt und wieder verschwunden waren. War jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Waren plötzlich fremde Boote oder Autos in der Gegend gewesen? Am Seeufer gab es zwei Gemeinden, eine protestantisch, die andere katholisch, beide in tiefem Argwohn miteinander verbunden. Alles, was auch nur im Entferntesten ungewöhnlich gewesen war, war garantiert von jemandem bemerkt worden.
Er kam an einen Kiesstrand mit wunderbar rund geschliffenen Kieselsteinen, und während er dort entlangspazierte, spielte er mit dem Gedanken, ein paar davon auf das Boot des Fischers zu schaffen. Damit könnte er den vernachlässigten Garten seines Vaters etwas hübscher machen. Eine Möwe tauchte ins Wasser und kam mit einem zappelnden Aal im Schnabel heraus. Im See wimmelte es von Leben, dachte er, aber genauso war dort der Tod zu Hause. Vielleicht war die Zivilisation hinter dem Lough ja nur seiner Fantasie entsprungen?
Zum Leben war Nordirland kein so übler Ort mehr, sprach er sich Mut zu. Möglicherweise war das Essen nicht so gut, und es gab auch hier schlechte Menschen, aber durch den Friedensprozess wurde das viele Leid, das in den vergangenen vierzig Jahren entstanden war, langsam geheilt.
Auf den Kieselstrand folgte dichtes Röhricht, das weit in den Lough hinausreichte. Beim Blick auf den Zerrspiegel der Seefläche schauderte es ihn. Dieser Mord war besonders grausam gewesen, und er befürchtete, dass sich die Ermittlungen lange hinziehen und schwierig werden würden. Die Mörder waren einige Risiken eingegangen, offenbar weil sie sicher waren, auf dieser unbewohnten Insel ungestört zu bleiben. Hatten sie ihr Opfer hierhergelockt, oder war es zu einem vereinbarten Treffen gekommen?
Er bemerkte eine Spur aus abgeknicktem Schilfrohr und kürzlich aufgewühltem Schlamm, die in das Röhricht führte. Als er darauf zuging, flog ein Schwarm Enten aus Nestern auf. Es waren flinke, vorsichtige Wesen, und ihre Körper waren für eine schnelle Flucht gebaut. Kurz blieb er stehen und betrachtete versonnen ihre gewandten Bewegungen, die sich im Wasser verdoppelten. Der einfachste Weg, um Ordnung ins Chaos zu bringen, dachte er plötzlich, war, zu warten, bis sich wieder Stille einstellte.
Im Röhricht stieß er auf eine Vogelbeobachtungshütte. Sie war nicht so klapprig und besser gebaut als jene, die er aus seiner Kindheit kannte. Im Innern fand er ein Fernglas. Eigentlich, dachte er, dienen Vogelbeobachtungshütten eher dazu, sich vor anderen Menschen zu verstecken, damit die das idiotische Verhalten von Ornithologen und Entenjägern nicht mitkriegen. Das Fernglas war von überraschend guter Qualität – keines der alten Dinger, wie er auf den ersten Blick vermutet hätte. Er nahm es und betrachtete damit die Uferlinie, eine verschlungene Gruppe von Wurzeln und Felsen, die über ihrem Spiegelbild schwebte. Er hatte weder Stift noch Block, um die Tiere zu notieren, die er entdeckte, aber zur Vogelbeobachtung war er ja nicht gekommen. Sein Blick blieb an einem heruntergekommenen Cottage hängen, halb versteckt unter Bäumen, die Hintertür einen Spaltbreit offen. Außer dem Haus war am Ufer kein Anzeichen von menschlichem Leben zu sehen.
Daly blinzelte. Das Gesicht des Toten hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, dass er dessen Umrisse in den dunklen Bäumen und ihrem Spiegelbild darunter wiederentdeckte. Er setzte das Fernglas ab. Er wusste nicht einmal, wonach er suchte. Genauso gut konnte er einen Märchenwald nach Spuren eines Ungeheuers absuchen.
Er trat aus der Hütte und ging den Pfad durch das Röhricht zurück. Ein durchweichtes, blutiges Ding fiel ihm ins Auge. Weil er es für einen toten Vogel hielt, stupste er mit dem Schuh dagegen. Doch es erwies sich als der erste Hinweis, der ihn auf die Spur der Täter führen konnte. Es sah aus wie ein blutiger Tauchhandschuh, und er hob ihn auf, um ihn in eine Asservatentüte zu stecken. Vielleicht hatte der Angreifer ihn ausgezogen, um besser zupacken zu können. Daly begriff, dass der Überfall sehr genau geplant und mit großem Aufwand durchgeführt worden war. Dann fragte er sich, wie lange es gedauert haben mochte, bis das Opfer gestorben war.
Als der Fischer Daly zum Festland zurückruderte, war es später Nachmittag geworden. In immer mehr Cottage-Fenstern erschien Licht. Von Mücken umschwirrt, traten sie an Land. Der Fischer meinte, im Winter seien sie nicht so schlimm wie die Sommermücken. Jetzt könnten sie nur einmal stechen.
Am Rand des Fahrwegs, der zu dem abgelegenen Cottage führte, zwängte sich eine Schar Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen durch die Lücken in einer Schlehdornhecke. Daly und die an der Einfahrt zum Cottage postierten Uniformierten begrüßten sich mit einem kaum merklichen Nicken. Dabei sah er aus dem Augenwinkel, wie Detective Derek Irwin gelangweilt gegen einen rostigen Schubkarren trat.
Bereits seit sieben Uhr morgens beaufsichtigte Irwin die Spurensicherer, die rund um Joseph Devines Cottage zugange waren.
»Ich dachte schon, Sie lassen uns hängen«, sagte er grußlos, als er Daly bemerkte. Irwin war nicht am Fundort der Leiche gewesen, entsprechend ungetrübt war sein forscher Blick. Es hatte den Anschein, als könnte jeden Moment unterdrückte Wut aus dem Detective herausplatzen.
»Wirklich prima hier. Ich dachte, Sie hätten es heute früh eilig mit dem Anfangen. Nach Ihrem Anruf bin ich sofort aus dem Haus gestürzt, ich hab nicht mal gefrühstückt.«
Im Licht von Irwins funkelnder Gereiztheit war Dalys Miene ein dunkler Granitblock. Dieser kleine Zornesausbruch ließ ihn nicht einmal blinzeln.
»Kein Grund zur Panik«, sagte Daly kühl. »Devines Mörder sind nicht erst vor ein paar Minuten zur Hintertür raus. Im echten Leben sind Verbrechen nicht so simpel.«
Irwin schnitt ein verächtliches Gesicht und zog sein Handy aus der Tasche, das zu klingeln begonnen hatte. »Ist privat«, verkündete er, neigte den Kopf mit den langen Locken zur Seite, und im nächsten Moment waren alle Empörung und Müdigkeit aus seiner Stimme verschwunden: »Hi Poppy. Hey, ich hoffe, ich hab dich gestern Nacht nicht aufgeweckt. Hat ewig gedauert, bis ich ein Taxi bekommen hab.« Er senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Kann ich heute Abend kommen? Sag bloß nicht Nein, das würde mich in tiefste Depressionen stürzen.« Das Handy gierig an den Mund gedrückt, entfernte er sich ein paar Schritte weiter.
Irwin war mindestens zehn Jahre jünger als Daly und stand für die Art von Jugend, von der Daly innig hoffte, er habe sie hinter sich gelassen. Die vielen SMS, die Irwin bekam, und seine geflüsterten Telefonate ließen auf ein bewegtes Sexualleben schließen. Dabei mochte Daly die Energie und das Ungestüm, mit dem sich Irwin ins Leben stürzte, obwohl er die Tage meist mit Routineermittlungen zu Sachbeschädigungen und Hauseinbrüchen verbrachte. Allerdings zeichnete sich der junge Detective auch durch einen Mangel an Geschick und Umsicht aus, der Daly befürchten ließ, er könnte manchmal mehr mit den Verwicklungen seines Liebeslebens beschäftigt sein als mit den Problemen eines Falls.
Irwin kehrte zurück und klappte sein Handy zu.
»Sie sehen scheiße aus«, sagte er nach einem prüfenden Blick auf Daly. »Wegen der vielen Wochenenden allein steht der Kessel ziemlich unter Druck, was? Ich glaube, Ihr Problem ist, dass Sie nicht genug unter Leuten sind.«
Dalys Trennung von seiner Frau war allen Kollegen bekannt. So etwas ließ sich bei der Polizei kaum verbergen. Nur wer glücklich liiert war, eilte freitagabends mit einem fröhlichen Lächeln nach Hause. Daly quittierte Irwins Bemerkung mit einem Nicken, als hätte sie ihm ein Quäntchen Trost beschert.
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