Er ging in die Küche und öffnete irgendeine Dose. Er hatte keine Lust, das Etikett zu lesen, aber es roch, als würde Anna es höchstens an ihre Katze verfüttern. Nach ein paar Bissen ließ er die Gabel in der Dose stecken, stand auf und schleppte sich ins Bett.
Die namenlose Stimme am anderen Ende der Leitung sprach wenig und beendete das Gespräch rasch. Father Jack Fee hörte sich die nüchtern aufgezählten Tatsachen an, denen nichts von einer Tragödie anhaftete, und legte dann ebenfalls auf. Es war fünf Uhr morgens, und er saß in seinem kalten Arbeitszimmer. Während der Troubles war er Vikar in einer Gemeinde im Grenzgebiet gewesen, daher wusste er, was der Überbringer der Nachricht meinte. Der Mann hatte mit großer Autorität gesprochen, auch wenn die Nachricht selbst nicht schlüssig war und man ihn vielleicht zum Narren halten wollte. Aber für Father Fee war sie traurig und mehr als das – bestürzend. Er ging zu seinem Schreibtisch und schrieb die Worte nieder. Es war seine Pflicht als Priester, den Anweisungen zu folgen, auch wenn das Priesterseminar ihn auf so etwas nicht vorbereitet hatte.
In einem Baum auf Coney Island wartet ein Toter auf Sie .
Das klingt wie eine makabre Aufgabe bei einer Schnitzeljagd, dachte er. Bis er sich gewaschen, angezogen und sein Gebetbuch und die heiligen Öle eingepackt hatte, war die Dämmerung aufgezogen. Er öffnete die Haustür und ging hinaus. Der Morgen roch nach feuchtem Moos. Aus den tiefen Wolken, die über den tristen Himmel zogen, tröpfelte es leicht. Beneidenswert, mit welch stiller Zielstrebigkeit sich Wolken bewegen, dachte er.
Ein grauer Star hatte Father Fee auf einem Auge fast erblinden lassen. Das bedeutete auch, dass er nicht mehr selbst Auto fahren konnte, sondern auf die Hilfe eines Gemeindemitglieds angewiesen war. Die ihm heute bevorstehende Prüfung wollte er seinem üblichen Fahrer jedoch ersparen. Mit einem Stoßgebet zum heiligen Christophorus fuhr er mit seinem zehn Jahre alten Renault über die schlaglochübersäten ländlichen Straßen bis zu dem Ring der Townlands, die Munchies genannt wurden.
Bisher hatte er insgesamt sechs Ermordeten die Letzte Ölung gegeben. Anrufe hatten ihn an Straßengräben oder stille Waldflecken geleitet, wo ihre Leichen lagen, mit Düngersäcken über dem Kopf und die Hände mit Paketschnur gefesselt. Alle sechs waren als Spitzel gegeißelt worden, während der Troubles eine hochgefährdete Spezies.
In der schlechten alten Zeit war seine Gemeinde für ihn weniger ein sicherer Hafen einer gottesfürchtigen Schar gewesen als vielmehr das Niemandsland zwischen zwei Armeen, Schauplatz für IRA-Überfälle und Patrouillen der British Army. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen richtig und falsch hatte für die Mitglieder seiner Gemeinde wenig Bedeutung gehabt, es kam nur darauf an, was für das Überleben notwendig war oder nicht.
Durch ein dichtes Birkenwäldchen kam Father Fee in das Townland Derryinver mit einem weiten Blick über den Lough Neagh. Er manövrierte den alten Wagen durch eine Abfolge von Kurven, die den Einheimischen zufolge selbst einem Häretiker den Teufel austreiben konnten, und fuhr, knirschend schaltend, an der Maghery Church vorbei. In der Ferne waren vage die Umrisse der schneebedeckten Sperrin Mountains zu erkennen. Dann beschleunigte er und rollte durch eine Landschaft, die mit ihren dichten Hecken und abfallenden Feldern auch ein Naturschutzgebiet für Scharfschützen darstellen konnte.
Es war passend, dass dies eine seiner letzten Aufgaben vor dem Ruhestand sein sollte. Die achtundvierzig Jahre seines Berufslebens waren ein einziger trauriger Gang durch sämtliche Fegefeuer dieser verfluchten Provinz gewesen. Vielleicht würde er, wenn er vom Totenbett aus zurückblickte, erkennen, dass die Troubles ihm das Priesteramt gerettet hatten, vor allem gegen Ende zu, als sich die Verbrechen, die ihm seine Gemeindemitglieder beichteten, wie ein Knäuel Schlangen um seine Seele legten. Da war es leicht gewesen, Gut und Böse zu unterscheiden und sein eigenes Abgleiten in spirituelle Gleichgültigkeit zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Als er in den Maghery Park einbog, kam sein Wagen dort, wo nicht gestreut worden war, auf einer Eisplatte ein wenig ins Rutschen. Ein Fischer, der gerade mit seinem Boot anlegte, sah auf und winkte ihm zu. Father Fee überspielte sein ungutes Gefühl, stieg aus und erkundigte sich freundlich nach dem Befinden der Mutter des Manns, die schwer erkrankt war.
Es war ein langer, dunkler Winter mit viel zu vielen wolkenverhangenen Himmeln gewesen. Doch am Ufer des Lough stach Father Fee die grelle Spiegelung in den Augen und ließ sein Starauge tränen. Die hellen Wellen schwappten gegen das Fischerboot und ließen kleine Lichtbogen um den dunklen Rumpf laufen.
Der Priester bat den Fischer, ihn nach Coney Island überzusetzen. Dann ließ er sich schwerfällig auf der Holzbank nieder und spielte mit den Dosen der heiligen Öle und dem Weihwasserfläschchen in seiner Rocktasche. Er war froh um den Sonnenschein, während sie hinausruderten. Die Ruderblätter tauchten nur so tief ein, dass sie mit jedem Schlag mehr Licht als Wasser herausschöpften. Die Helligkeit ließ Father Fee für den Moment alle beängstigenden Gedanken an das Kommende vergessen, und er war zufrieden, dem Fischer beim Rudern zuzusehen und sich mit ihm verbunden zu fühlen. Menschenfischer, Fischer verlorener Seelen, dachte er im Stillen. Er ließ ein paar Worte über das Wetter fallen, hütete sich aber, den Grund für diese Fahrt oder etwas von seiner Angst zu verraten.
Er hatte schon mehrere an abgelegenen Stellen versteckte Informantenleichen gefunden, mit dem Gesicht auf dem Boden liegend und von Ranken und Unkraut umschlungen. An diesen x-beliebigen Orten, wo sein Blick von blühenden Pflanzen und durch die Hecken raschelnden Vögeln abgelenkt wurde, waren sie schwer auszumachen gewesen. Doch sobald er die Insel betrat, ahnte er, dass es dieses Mal anders sein würde. Wer auch immer die Leiche hier abgelegt hatte, hatte einen Hang zur makabren Inszenierung. Der Leichnam war groteskerweise sitzend in einer Baumhöhle hindrapiert, Kopf und Schultern waren nach vorne gesackt, auf dem fahlen Gesicht lag ein Ausdruck verhärmter Erschöpfung. Father Fee erkannte auf den ersten Blick, dass es eines seiner älteren Gemeindemitglieder war, ein regelmäßiger Kirchgänger noch dazu. Er hatte sich schon gewundert, warum er ihn seit Wochen nicht gesehen hatte.
Traurig schüttelte der Priester den Kopf. Ein weiteres menschliches Opfer des gewaltsamen sozialen Schiffbruchs, der Troubles hieß, war angespült worden. Obwohl das Bomben seit mehr als einem Jahrzehnt beendet war, kam es noch immer scheußlich oft vor, dass konfessionelle Konflikte und Mord sein Priesterleben beeinträchtigten.
Wenn er vom Altar aus auf seine kleine Gemeinde blickte, dachte Father Fee oft an ihre Ängste und Hoffnungen, an ihre Familien und ihren Alltag, die kleinen Lasten auf ihren Schultern und in ihren Herzen. Seit dem Waffenstillstand hatten sich viele Paramilitärs hier am Seeufer niedergelassen – manchmal sogar ganze Familien. Einige hatten in der Politik ein neues Betätigungsfeld gefunden, andere waren dem Alkohol verfallen, und ein paar hatten zu Gott gefunden. Letztere waren jene, deren Gewissen von dem gequält wurde, was sie gesehen und getan hatten. Durch das Sakrament der Beichte wurde ihnen die Gnade Gottes zuteil, aber ihre Unsicherheit zwang sie dazu, sich dessen immer wieder zu vergewissern. Sie waren die verlorenen Schafe seiner Herde, die jetzt an jedem Tag in der Woche zuverlässig zur Messe kamen, sich großzügig an den Kollekten beteiligten und sich sogar erboten, ihm eine Reise nach Rom und in das Heilige Land zu ermöglichen. Bei Beerdigungen legten sie ihm die groben Hände auf die Schultern und flüsterten: »Sehr schön, Herr Pfarrer.«
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