Über dieses Buch
Elija ist die älteste der Schwestern, ihre Augen, von einer großen Lidfalte beschützt, blicken auf das Schöne in der Welt. Sie liebt das Theater, wenn sie die Hagar spielt, die in die Wüste geschickt wird, allein mit einem Kind im Bauch. Auf der Bühne kann Elija Mutter sein, in echt kann sie das nicht. Noa jobbt in einer Kantine. Jeden Tag hofft sie auf Akim, der hoch oben in dem Glasturm mit Elbblick arbeitet. Sie können über vieles sprechen, die Exmatrikulation, ihre Ostasienreisen, nur nicht darüber, wohin sie geht, wenn ihre Schicht in der Kantine vorbei ist. Loth, die Jüngste, ist schön wie eine Statue. Und sie ist wütend. Bei Demos wird sie als Nazi beschimpft, sie selbst hält die Linken für Meinungsfaschisten. Sie ist in die patriotische Hausgemeinschaft in Halle gezogen, um zu kämpfen. Die Wanderung war Loths Idee. Die Idee, noch einmal Schwestern zu sein. Das Moor zu durchqueren und auf dem Berg das Lied zu singen, das ihr Vater für sie gedichtet hat. Doch wie die Schwestern ist auch das Moor nicht mehr dasselbe. Einen Tag verbringen sie zusammen, allein mit sich und den Erinnerungen, die selbst das Moor nicht schlucken kann, mit all dem Morast und Torf, und es gibt nichts, was Halt verspricht.
Amanda Lasker-Berlin beherrscht die Kunst der Verdichtung, das Spurenlegen, das Erzeugen von stärker werdenden Schwingungen bis hin zum Paukenschlag. Ihre fließende, konzentrierte Sprache, ihr Vertrauen auf die Kraft ihrer Figuren sowie die Empathie und Unaufgeregtheit, mit der sie brisante gesellschaftliche Themen mit individuellen Schicksalen engführt, zeugen von dem großen Talent der Debütautorin.
für Katze, für Juli
Inhalt
Von acht bis elf
Acht
Acht. Dreizehn
Acht. Zwanzig
Acht. Sechsundzwanzig
Acht. Dreißig
Acht. Einundvierzig
Acht. Vierundvierzig
Neun. Zehn
Neun. Vierundzwanzig
Neun. Achtundvierzig
Zehn. Sechsundzwanzig
Zehn. Achtunddreißig
Zehn. Sechsundvierzig
Von elf bis vierzehn
Elf. Sechzehn
Elf. Achtunddreißig
Zwölf. Sieben
Zwölf. Vierzig
Zwölf. Vierundvierzig
Dreizehn. Zwei
Dreizehn. Siebzehn
Dreizehn. Achtundvierzig
Von vierzehn bis siebzehn
Vierzehn. Eins
Vierzehn. Einundzwanzig
Vierzehn. Zweiunddreißig
Fünfzehn. Eins
Fünfzehn. Vierundzwanzig
Fünfzehn. Vierundvierzig
Sechzehn
Sechzehn. Zweiundzwanzig
Sechzehn. Einundfünfzig
Von siebzehn bis zwanzig
Siebzehn. Zwei
Siebzehn. Achtundvierzig
Siebzehn. Achtundfünfzig
Achtzehn. Elf
Achtzehn. Fünfzehn
Achtzehn. Einundzwanzig
Achtzehn. Fünfunddreißig
Neunzehn
Neunzehn. Vier
Neunzehn. Dreißig
Neunzehn. Vierundvierzig
Neunzehn. Fünfundfünfzig
Von zwanzig bis null
Zwanzig. Zwölf
Zwanzig. Siebzehn
Zwanzig. Vierundzwanzig
Zwanzig. Einunddreißig
Einundzwanzig
Einundzwanzig. Zehn
Einundzwanzig. Vierzehn
Zweiundzwanzig. Zwei
Zweiundzwanzig. Achtzehn
Zweiundzwanzig. Vierzig
Dreiundzwanzig. Neun
Dreiundzwanzig. Vierzehn
Dreiundzwanzig. Achtzehn
Dreiundzwanzig. Vierzig
Von null und weiter
Null
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VON ACHT BIS ELF
Acht
Die Sonne sticht in Noas Auge. Sie blinzelt. Bleibt eine kleine Weile blind. Noa lauscht dem Bach. Er schlängelt sich durch das Moor, teilt es in zwei Hälften. Zwischen Wasser und Noa wuchern halbhohe Gräser, sie wiegen sich minimal. Die umstehenden Bäume beschützen sie vor dem Wind. In den Kronen rascheln tiefgrüne Nadeln. An ihnen kommt die Sonne nur schwer vorbei. Mehrfach gebrochen, landen helle Strahlen auf dem sumpfigen Grund, zeichnen Muster auf die herausstehenden Wurzeln, flimmern über die Holzplanken, auf denen Noa hockt.
Endlich das Licht, denkt Noa. Nächte sind ihr zu dunkel.
Ein Sonnenstrahl bricht sich im Wasser, hüpft an ihrem Auge vorbei, landet auf ihrer Stirn. Sie mag es, Sonne auf der Haut zu spüren. Mehr noch, als die Haut eines anderen zu streicheln.
Fast ohne jede Welle zieht der Bach an ihr vorbei. Noa lehnt sich vor. Ihr Spiegelbild taucht im schnellen Wasserlauf auf. Verschwommen, unklar. Die Gesichtsform zitternd, die Augen milchige Flecken, die Nase wegen der schwachen Kontraste nicht auszumachen. Irgendwo die Ohren. Nur die roten Haare strahlen ihr deutlich entgegen. Die sind chemisch gefärbt. Noa schiebt sich ein Stück weiter vor. Schaut genauer hin. Das Spiegelgesicht wird größer. Noa dreht sich um. Vielleicht steht jemand hinter ihr, der so verschwommen aussieht. Vielleicht Elija oder Loth.
Jetzt blickt Noa konzentriert auf ihr Bild im Wasser. Die Iris setzt sich nicht vom Augapfelweiß ab, die Pupillen sind ein übersehbarer Fleck. Wimpern erkennt sie nicht.
Mit dem kleinen Finger streichelt sie ihr Auge. Kurze borstige Haare sprießen aus dem Lid. Die Haut ist dort warm. Noa wärmt sich die Finger auf, dann taucht sie sie in den Bach.
Das Wasser weiß noch nichts vom Sommer. Das Wasser denkt noch: Schneeschmelze.
In den Fingerkuppen ziehen sich die Gefäße zusammen, das Blut kehrt um. Fließt bis in die Handwurzel. Die Finger werden weiß.
Sanft führt Noa sie gegen die Strömung. Das Wasser schnellt durch den Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger, lässt sich nicht stauen.
Noa schaut in den Himmel. Kleine Wolken, spitze Kronen und das Versprechen auf Hitze. Die Vögel singen nicht mehr. Dafür ist es zu spät am Tag.
Während Noa den Kopf in den Nacken legt, treibt der Bach das Wasser tiefer ins Moor.
Noa nimmt den Kopf aus den Wolken, schaut auf die fröstelnde Hand im Bach. An den Kuppen ist sie blau geworden. Schnell zieht Noa sie heraus, streift sie an der Hose ab. Dann steht sie auf. Ihr Spiegelbild versackt im Moor. Nur das Rot der Haare nicht. Das ist chemisch gefärbt.
Acht. Dreizehn
Loth kniet vor Elija. Das Licht blendet sie. Warum muss es am Morgen schon so hell sein? Vielleicht hätten sie früher aufstehen sollen. Loth konnte sowieso nicht schlafen. Loths Finger sind kalt. Elijas rechter Schnürsenkel hundertfach verknotet. Dass man so ein riesiges Knäuel aus nur zwei Schnüren zusammenwurschteln kann, wusste Loth vorher nicht.
Warum hast du das gemacht, murmelt sie.
Elija schluchzt leise. Ohne Tränen. Zum Richtigweinen ist sie noch zu müde. Vor neun steht sie normalerweise nicht auf. Loth und Noa haben sie gezwungen.
Ihr ist schummrig vor Augen. Der Tag beginnt zu plötzlich. Frühstück in der Herbergsküche. Zu starker Käse, zu rustikale Wurst. Zuckerreduzierte Marmelade. So was isst Elija nicht. Trockenes Brot macht ihr schlechte Laune. Kein Kakao, nur Kräutertee, und der schmeckt nach Krankenhaus.
Elija lehnt sich an der Bushaltestelle an. Bei der Fahrt ist ihr schlecht geworden. Sie hat sich nicht übergeben. Wenn sie keine Tüten dabei hat, übergibt sie sich nicht.
Ihr ist das nur einmal passiert. Vor Jahren. Elija sieht sich dastehen, im Bus. So wie jetzt kurz vor dem Moor. Die Hände an die Stange gepresst, die Lippen aufeinander. Flaches Atmen durch die Nase. Die Schule nicht mehr weit entfernt. Überall Winter und überall stinkende Anoraks in der föhnigen Heizungsluft. Und da passiert es einfach. Nach einer scharfen Kurve, wenige Minuten vor dem Kunstunterricht. Der gelbe Anorak wird braun und noch stinkender. Alle denken: Ah, diese behinderten Kinder kotzen überall hin. Wir kotzen ja nicht überall hin. Wir haben gute Gene und kotzen nur, wenn wir betrunken sind. Aber dann ist es dunkel und cool, und jetzt ist es hell und peinlich. Können behinderte Kinder überhaupt Tageszeiten auseinanderhalten?
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