Die Auswirkungen der Corona-Pandemie von 2020 haben mehr als deutlich offengelegt, dass sich die gesellschaftlichen Strukturen auf funktionsfähige KiTas stützen – KiTas bekommen die Bedeutung sogenannter systemrelevanter Institutionen. Kinderärzte und die Familienverbände forderten bereits Anfang Mai 2020 die Wiedereröffnung der KiTas und Schulen und warnten vor der Gefährdung des Kindeswohls und vor psychischen und gesundheitlichen Schäden. 16 Die Corona-Krise zeigte deutlich, dass die Bedeutung von KiTas ebenso wie die von Schulen in der politischen Diskussion immer noch zu wenig verstanden und/oder berücksichtigt wird und dass die alleinige bzw. vorrangige Zuweisung der Verantwortung an die Familien weder der gesellschaftlichen Entwicklung noch den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Die hohe Rate erwerbstätiger Elternteile unterstreicht, dass die Vereinbarkeit von Familien und Beruf die stützende Struktur der institutionellen Kindertagesbetreuung erfordert. Die Corona-Krise zeigte leider auch, dass für Kinder aus Familien, die in prekären ökonomischen und sozialen Bedingungen leben, die Versorgung in der KiTa eine große Bedeutung hat, insbesondere auch für ihre Ernährung und Gesundheit. 17 Mit dem Bildungs- und Teilhabegesetz hat die Bundesregierung seit 2011 die Grundlage für die Bezuschussung der Inanspruchnahme des Mittagessens in KiTa und Schule für Kinder in sozioökonomisch prekären Lebenslagen geschaffen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMAS, 2020).
Bezogen auf das Thema Essen und Ernährungsbildung ist also insgesamt festzuhalten, dass die KiTa eine optimale Möglichkeit für die Versorgung und Prävention für alle sozialen Gruppen bietet – und die Verpflichtung dazu hat. Eine KiTa ist wie die Schule ein
relevantes Setting für Prävention und Gesundheitsförderung im Sinne von Public Health Nutrition (PHN), welche die engen wechselseitigen Beziehungen zwischen Gesundheit und politischen, ökologischen und ökonomischen Bedingungen in den Blick nimmt, … [diese] wird in Deutschland jedoch noch nicht flächendeckend verfolgt. Dadurch werden bestehende Potenziale nicht ausgeschöpft (Kroke et al., 2020b, S. M32).
Der weitere, notwendige KiTa-Ausbau verlangt die Herausbildung neuer Strukturen – nicht nur bezogen auf Betreuungsumfang und -qualität. Auch die Umstellung des Mahlzeitenangebotes – vom gemeinsamen Verzehr des Frühstücks, das aus den (in den Familienhaushalten gefüllten) Brotdosen genommen wird, hin zu einer Versorgung mit zwei bis drei Hauptmahlzeiten und Varianten der Zwischenmahlzeiten – erfordert in der KiTa eine Neuorganisation von Zeiten, Räumen und Kooperationen der Akteure (inklusive Arbeitsbereichen und Arbeitsteilung;
Kap. 7). Angesichts der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen, Anbieterstrukturen und damit verbundenen Verantwortlichkeiten ist auch eine Verbesserung der Zusammenarbeit an den »Schnittstellen« zwischen allen beteiligten Akteuren und Institutionen notwendig. Mit diesen Fragen und Problemen müssen sich die Leitungskräfte vor Ort bisher im Wesentlichen alleine auseinandersetzen. Auf verbindliche finanzielle, personelle und räumlich ausreichende sowie effektive Strukturen können sie sich nicht stützen. Leidtragende sind einerseits die Kinder und ihre Familien und andererseits die pädagogischen Fachkräfte, die alle damit verbundenen Schwierigkeiten bewältigen müssen.
Die Vorstellung, dass die Eltern (allein) für die Ernährung der Kinder verantwortlich sind, ist sowohl überholt als auch rechtlich im Widerspruch zum UN-Recht. Nach der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 (1990 von Deutschland unterzeichnet und seit 1992 in Kraft; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMFSFJ, 2018; Deutsches Kinderhilfswerk, 2020) ist der Träger einer KiTa verpflichtet, Kinder nicht nur ausreichend, sondern auch gesundheitsförderlich zu ernähren und zu versorgen. Diesem Anspruch muss entsprochen werden. Da Ernährung grundlegend für Gesundheit und Lebensqualität ist, schließt diese Forderung auch eine Ernährungsbildung ein (Scherbaum et al., 2012a, 2012b;
Kap. 6).
Abschließende Anmerkung: In diesem Buch wird mit Ernährung immer nur das Attribut gesundheitsförderlich verbunden und nicht das oft zu lesende, sprachlich bzw. fachlich inkorrekte Attribut »gesund« (
Kasten 1.1).
Kasten 1.1: »Gesund« oder gesundheitsförderlich?
Im Alltag wird »gesund« häufig als Kennzeichnung genutzt, z. B. »gesunde« Ernährung, »gesundes« Lebensmittel oder etwas ist »gesund«. Diese Nutzung von »gesund« ist einerseits inhaltlich nicht korrekt und beinhaltet andererseits eine problematische Einengung.
Ernährungsweisen und -angebote als »gesund« zu bezeichnen, beinhaltet, ein System oder einen Handlungsbereich als »gesund« zu bewerten, und bezieht sich also auf die Gesundheit bzw. das Handeln der Person: Is(s)t diese Person nicht essgestört? Das heißt, ist sie psychisch, physisch und sozial »gesund«? Ist die Organisation der KiTa gesund, oder »krankt« sie an etwas?
Bezogen auf Lebensmittel bedeutet »gesund«, dass das Lebensmittel nicht von Krankheiten befallen ist. Ein Lebensmittel, eine Lebensmittelgruppe oder ein Essstil kann alleine nicht die Gesundheit sichern, dies kann nur durch eine gesundheitsförderliche Zusammenstellung von Lebensmitteln als Teil entsprechender Ernährungsstile und Lebensweisen 18 gewährleistet werden.
Aus diesem Grund sind »gesundheitsförderlich«, »weniger gesundheitsförderlich« bzw. »gesundheitsabträglich« wissenschaftlich korrekte Bezeichnungen. Diese Begriffe beinhalten, dass ein Lebensmittel oder ein Essstil (a) einen Beitrag zur Förderung der Gesundheit leisten kann oder (b) wenig gesundheitsförderlich oder gesundheitsabträglich ist, sodass die gesundheitliche Entwicklung behindert oder erschwert wird.
Gesundheit und Krankheit sind Ergebnisse komplexer Prozesse, die nicht durch einen einfachen kausalen Zusammenhang erklärt werden können. Eine gesundheitsförderliche Ernährung kann – wie der Begriff ausdrückt – (nur) einen Beitrag zur Förderung der Gesundheit leisten.
Essen hat für die Menschen eine physische, psychische und soziale Funktion (
Kap. 3). Wenn im Weiteren von einer »bedarfsgerechten Ernährung« gesprochen wird, dann wird darunter nur verstanden, dass die Ernährung dem physischen Bedarf des Menschen entspricht (bezogen auf die Nährstoffe und Lebensmittelinhaltsstoffe mit präventiv wirkender Funktion).
1.2 Essen und Ernährung – ein vielseitiges und herausforderndes Bildungs- und Handlungsfeld der KiTa
1.2.1 Ess-Enkulturation und Ess-Sozialisation in der KiTa
Vom ersten Tag an sind Essen und Ernährung verbunden mit Enkulturation und Sozialisation. 19 Seit Menschen Nahrung auswählen und bearbeiten (müssen), entwickeln sie Esskulturen, deren Übernahme bzw. (bildlich und wörtlich) Inkorporation vor allem durch Essen im jeweiligen kulturellen Umfeld erfolgt. Darüber wird auch vermittelt,
• was gegessen werden soll oder darf und welche Normen und Werte damit verbunden sind,
• wie Lebensmittel bearbeitet werden und
• in welcher Form zusammen gegessen wird.
Esskulturen leiten unbemerkt unseren Alltag, weil sie einen Rahmen für die Entscheidungen des Alltags bieten wie: Welche Lebensmittel und Speisen sind zu essen? Was ist ein »gutes«, was ein »weniger gutes Essen«? Wie, wo, was und wann wird gegessen? Esskulturen zu vermitteln, gehört auch zu den Aufgaben der KiTa. Einerseits geschieht dies durch die Ess-Sozialisation und -bildung am gemeinsamen Tisch. Andererseits sind Themen rund um das Essen ebenfalls Teil des Bildungsauftrags (§ 22 SGB VIII), der alle Bildungs- und Entwicklungsfelder berührt, vor allem aber die Bildungsbereiche Körper, Bewegung und Gesundheit.
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