Im März 2015 gab es bundesweit 54 536 Tageseinrichtungen, in denen ca. 2,86 Mio. Kinder unter 7 Jahren betreut wurden. Von diesen erhielten ca. 2,01 Mio. eine Mittagsverpflegung. Die Altersgruppe der unter 3-Jährigen (auch Krippenkinder genannt) spielt eine immer größere Rolle: Allein 593 639 der Kinder in Tageseinrichtungen sind in dieser Altersgruppe zu finden. (Arens-Azevêdo et al., 2016b, S. 103)
Beide Studien zeigten, dass weder alle Kinder für die Zeit des Besuches die von Fachgesellschaften empfohlene Abfolge der »kalten« (wie Frühstück) und »warmen« (wie Mittagessen) Mahlzeiten geboten bekamen, noch war eine ausreichende Versorgung mit Nähr- und Wirkstoffen gewährleistet, wobei vor allem das Angebot an Obst und Gemüse (auch als Frischkost) zu gering und das an Fleisch(erzeugnissen) zu hoch war. Die personelle Ausstattung, die räumlichen Bedingungen und die Sicherung der Hygienestandards ließen nach wie vor zu wünschen übrig. DGE-zertifizierte KiTas 6 hatten dabei ein besseres Angebot und eine größere Zufriedenheit mit der Situation (Arens-Azevêdo et al., 2014, 2016b; Tecklenburg et al., 2016).
2019 besuchten 3,7 Mio. Kinder eine KiTa. Das waren 93 % aller Kinder! Bezogen auf Kinder derselben Altersgruppe besuchten durchschnittlich 34,3 % der Kinder von 0–2 Jahren (ABL 30,3 %, NBL 52,1 %) 7 und 93 % der Kinder von 3–5 Jahren (ABL 92,7 %; NBL 94,2 %) eine KiTa (Statistisches Bundesamt, 2020).
Angesichts dieser hohen Quote der Inanspruchnahme werfen die institutionellen Strukturen der KiTa weitere Fragen 8 auf: Von den 3,7 Millionen betreuten Kindern nahmen im Jahr 2019 nur rund 2,3 Mio. Kinder eine Mittagsverpflegung in Anspruch (NQZ, 2020a) 9 , was – bis auf Ausnahmen – bedeutet, dass für 1,4 Mio. Kinder die KiTas keine Warmspeisenversorgung angeboten haben. Auch die Versorgungsqualität wurde nicht ausreichend gesichert:
Noch 2015 gaben nur 35,1 % der befragten KiTas an, ein dokumentiertes Verpflegungskonzept zu haben. In diesem sind die »Qualität und Angebotsbreite der Mahlzeiten sowie die strukturellen Rahmenbedingungen« zu beschreiben (Tecklenburg et al., 2016, S. 52/M 110).
10,4 % der Kitas sind dabei, ein solches [Verpflegungskonzept] zu erarbeiten und bei 6,0 % ist es in Planung. In 42,3 % der Kitas fehlt hingegen ein Verpflegungskonzept und 6,2 % machten hierzu keine Angabe. Ähnlich ist das Bild auch in Bezug auf das HACCP2-Konzept, über das jede Kita im Rahmen des Hygienemanagements verfügen sollte. Nur 42,1 % der Kitas geben an, ein solches zu haben, während 34,1 % das Konzept nicht bekannt ist und 15,0 % über kein HACCP-Konzept verfügen. (ebd.)
2013 gab nur ein Drittel (34,1 %) der befragten KiTas an, sich für die Gestaltung ihres Verpflegungsangebots an externen (wissenschaftlich fundierten) Standards zu orientieren. Auch 2015 hatten nur
knapp die Hälfte (47,2 %) der Kitas […] Kenntnis über externe Standards für die Verpflegung in Kitas, 45,8 % kennen solche Standards nicht und 7,0 % machen keine Angaben. 29,6 % der befragten Kitas geben an, den DGE-Qualitätsstandard als Basis für die Verpflegung zu berücksichtigen. (ebd.)
Mangelnde Regulierung zeigt sich auch bei der Vertragsvergabe mit Dienstleistern (z. B. Caterern), bei denen nach wie vor noch allzu oft keine oder unzureichende bzw. indifferente Qualitätskriterien ausgewiesen sind. Dazu zählen u. a. Kriterien wie Hersteller- und Einkaufsnachweis 10 , Be- und Verarbeitung der Speisen, Speisenzusammenstellung, Mengen. Die langfristigen gesundheitlichen Folgen einer ungenügenden Qualität der Ernährung werden in zu hohem Maße noch ignoriert. Daher ist es wichtig, dies in die Verpflegungskonzeptionen aufzunehmen und mit der Auftragsvergabe zu verknüpfen (
Kap. 7.9).
1.1.4 KiTa – eine systemrelevante Institution ohne systemrelevante Unterstützung
In einem Lebensbereich, der einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung und dabei auch auf die gegenwärtige und zukünftige Gesundheit der Kinder hat, wird also – positiv formuliert – in der Mehrzahl der KiTas immer noch nicht nach wissenschaftlichen Empfehlungen, sondern nach »bestem Wissen« und/oder Einstellungen der jeweils Verantwortlichen gehandelt. Negativ könnte man dieses Vorgehen auch als willkürlich bezeichnen. Dabei trifft dieser Vorwurf in erster Linie die verantwortlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die Kommunen und die dort engagierten verantwortlichen Institutionen 11 (
Kap. 6u. 7). In den meisten öffentlichen Bereichen gelten DIN-Vorschriften, sind TÜV-Prüfungen und andere Normierungen und Kontrollen verpflichtend, auch wenn diese nicht die Relevanz wie der Bereich Essen und Ernährung für das Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes haben. Falls die Toilettenschüssel einige Zentimeter zu groß ist, kann dies die Betriebsgenehmigung für eine KiTa gefährden. Was für jeden baulichen Aspekt und die bauliche Ausstattung wie auch jedes Außenspielgerät gilt, fehlt für die Qualitätssicherung bei der KiTa-Verpflegung.
Die Chancen, die eine qualitätsorientierte Kindertagesbetreuung für die Entwicklung und Bildung der Kinder bis zum Schuleintritt, für die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit sowie für die Unterstützung von Familien haben kann, wurden in den alten Bundesländern bis Mitte der 1990er Jahre wenig genutzt. Der breitere Ausbau von Kindergärten in den alten Bundesländern begann in den 1960er Jahren (bis auf Ausnahmen) für die Vormittagsbetreuung von Kindern ab vier Jahren. In den folgenden Jahrzehnten wurde es legitimer, Kinder vor dem Schuleintritt einen Kindergarten besuchen zu lassen, um den Übergang in die Schule zu erleichtern. Die Vorstellung, dass die Aufgabe der Erziehung und Betreuung eine Aufgabe der Familien (d. h. konkret meist der Frauen) ist, leitete – und leitet in vielen Bereichen immer noch – die deutsche Familien- und Bildungspolitik in den alten Bundesländern. Dass noch heute nicht in allen Bundesländern die Verpflichtung besteht, Kindern auch bei verlängerten bzw. nicht geteilten Öffnungszeiten einer KiTa von sechs bis sieben Betreuungsstunden pro Tag (d. h. seines Wandels zur ganztägigen Betreuung) eine warme Mittagsmahlzeit anzubieten, ist ein Ausdruck davon. Das Ehegattensplitting, der späte und zögerliche Ausbau der Ganztagsschulen oder der unzureichende Ausbau von KiTas und vor allem von Krippenplätzen sind in diesem Zusammenhang als Ausdruck einer Gesellschaft, die nach wie vor auf die Verfügbarkeit der »Hausfrau« setzt, also eine Person im Familienhaushalt, die zeitlich uneingeschränkt der Versorgung mit Mahlzeiten nachkommt, immer noch kritisch zu diskutieren.
Die Möglichkeiten des »Gute KiTa Gesetzes« werden bisher (Stand Juli 2020) meist für infrastrukturelle Maßnahmen wie den überfälligen räumlichen und personellen Ausbau, 12 die Reduktion des Beitrags und die Qualifizierung von (Leitungs-)Personal genutzt. Weniger als die Hälfte der Bundesländer machen allgemeine Angaben zur Förderung der Bildung, nur drei konkrete Angaben (zur sprachlichen Bildung) – und in keinem Bundesland 13 für den Bereich »Gesundes Aufwachsen«, zu dem auch eine gesundheitsförderliche Ernährung gehört (
Kap. 6).
Dass »gesundheitliches Aufwachsen« für die Nutzung des Einsatzes der Mittel bisher wenig bis gar keine Bedeutung hat, signalisiert leider nicht, dass in diesem Feld kein Bedarf besteht. Die Sicherung einer qualitätsorientierten Ernährungsversorgung wird vonseiten der Gesetzgeber und Träger weiterhin vor allem den Familien überlassen. In der Diskussion spielen auch ökonomische Argumente eine Rolle. 14 Aus volkswirtschaftlicher Sicht bringt der KiTa-Ausbau durch die nachgewiesenen Vorteile in der Bildungs- und Berufsbiografie einen bedeutsamen Gewinn. 15 Zudem ist die Notwendigkeit des Ausbaus angesichts des Wandels der Lebensbedingungen und -formen (Bartsch & Methfessel, 2012b) inzwischen auch rechtlich gesichert und – wenn mit 93 % fast alle Kinder und dabei zunehmend Kinder unter drei Jahren in der KiTa betreut werden – mehr und mehr über alle Gesellschaftsschichten gefordert.
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