Auf der meinem Büro gegenüberliegenden Straßenseite jedoch sollte im Frühsommer ein Bauvorhaben beginnen, das in der ortsüblichen Vorgehensweise als Betonskelett gegossen und dann stockweise mit Ziegelsteinen ausgefüllt wurde. Es versprach, ein weiteres Monstrum an Geschmacklosigkeit zu werden, wuchs langsam Stock um Stock. Mit auf dem Gebäude errichteten Seilwinden wurden per Hand immer neue Paletten der importierten roten Backsteine auf die jeweils oberste Betonplattform gehievt. Anstelle von Baukränen gab es nur diese mittelalterliche Methode. Gelegentlich fielen einige dieser Steine, etwas Schutt oder auch einmal ein Balken hinab, und bei einer solchen Gelegenheit wurde ein Bauarbeiter vor meinen Augen erschlagen. Das Gebäude aber wuchs unbeirrt weiter, und bald schon war dank der anschwellenden Sichtbarriere nur mehr die entfernter gelegene Hälfte der Stadt zu erblicken. Ich beschloß in diesem Sommer, meine Zeit im Kosovo exakt dann als beendet zu betrachten, wenn schließlich der Ljuboten hinter diesem monströsen Blickfang versunken sein würde. Dann, spätestens, wäre es Zeit zu gehen.
Bis dahin aber war es noch lange hin, denn soeben betrat ich das blaue Bürohaus zum allerersten Mal. Wir erreichten die Sicherheitsschleuse, die als Öffnung mitsamt einem kleinen Wachhäuschen zwischen die Betonelemente eingelassen war. Die Sicherheitsleute waren Ortskräfte und begrüßten Aidan auf Skip, der Sprache der Albaner. Shqip bedeutet deutlich oder klar, und der Skipetar ist im Albanischen derjenige, der – ursprünglich im Unterschied zu dem türkischen Fremdling – verständlich spricht, also nicht gänzlich verschieden von der Wortbedeutung des althochdeutschen diutisc , aus dem das verständliche teutsch und schließlich eben deutsch wurde. Immer und überall ist der Fremdsprachige der Barbar.
Interessiert und freundlich blickten die Wachmänner durch die herabgelassenen Autofenster hindurch auf mich, den wie jeden Neuankömmling mit gewisser Spannung Erwarteten. Die erste der beiden Schranken schloß sich hinter dem Wagen. Bevor die zweite sich vor dem Kühlergrill hob, um uns passieren zu lassen, vollzog sich ein Ritual, das vor jedem geschützten Gebäude im Kosovo an jedem einfahrenden Fahrzeug immer in derselben Manier vorgenommen wurde: Ein Sicherheitsmann umrundete das zu untersuchende Gefährt mit einem an einer Art Besenstil auf Rollen angebrachten Spiegel. Den Spiegel rollte er an mehreren Stellen unter den Fahrzeugboden, um nachzusehen, ob dort etwa ein Sprengkörper angebracht sei. Der Sinn dieser Maßnahme stand außer Zweifel, derartige Sprengstoffanschläge waren aus sämtlichen Krisenregionen bekannt. Jedoch wie immer, wenn Routine ins Spiel kommt, wurde die Überprüfung mit einer gewissen Nonchalance ausgeführt. Später einmal fuhr ich mit einem Freund zum Spaß an einem Sonntagmorgen mit zwei Bananen, die wir recht gut sichtbar am Fahrzeugboden angebracht hatten, sämtliche Objekte in Priština an, die mit einer solchen Schleuse versehen waren. Erst an der Einfahrt zum Hauptquartier der Nato fiel den Kontrolleuren auf, daß da Obst ungehörig am Chassis des EU-Dienstwagens hing.
Da meine Ankunft an einem Samstag geschah, lag das Blue Building still und verwaist in der niedrig stehenden Februarsonne. Seine Bezeichnung war treffend gewählt, denn die gesamte Fassade bestand aus blau getöntem Glas, wie es damals im Kosovo Mode war und man es an Sportwagen, Restaurants und sogar Privathäusern sehen konnte. Da das Gebäude schon in wenigen Wochen mit dem noch nicht im Lande befindlichen International Civil Representative (ICR) auch den European Union Special Representative in Personalunion beherbergen sollte, wurde die blaue Farbe von den Insassen wie der Bevölkerung als politisches Signal europäischer Präsenz gedeutet. Es hieß, das Blue Building sei ohne Baugenehmigung errichtet worden, aber das war im Kosovo ohnehin Normalität, und dank seiner blauen Farbe, die bald auch auf die zu seinem Schutz errichtete Betonmauer aufgetragen wurde, war es seinem Mieter – meinem Arbeitgeber – wohl über jeden Zweifel erhaben. Bei dem Gebäude handelte es sich um eine in der bereits beschriebenen, ortsüblichen Bauweise mit Ziegelsteinen angefüllte Betonkonstruktion aus sechs geräumigen Stockwerken. In diesem Fall jedoch ausnahmsweise verputzt. Dieser schon anhand seiner Farbe prätentiöse Neubau wäre auf den ersten Blick auch als mittelmäßiges Bürogebäude im Industriegebiet einer deutschen Vorstadt durchgegangen. Erst in seinem Inneren entdeckte man nach und nach Baumängel, die man andernorts vermutlich dann doch nicht akzeptiert hätte: Abfließendes Regenwasser trat bei Wind durch die blaugetönten Fenster ein, tragende Betonsäulen standen inmitten vieler der jeweils von zwei oder gar mehr Personen genutzten Bürozimmer als auch der größeren Besprechungsräume und erschwerten darin die Kommunikation. Viele Türen waren verzogen, weil die Böden eine gewisse Neigung aufwiesen, und die Stufen der Haupttreppe waren von unterschiedlicher Höhe, so daß man unversehens auf ihr ins Stolpern geriet. Aber alles in allem war das Gebäude erträglich; schließlich war ich nicht des Komforts wegen ins Kosovo gekommen.
Als großen Vorzug verfügte das Blue Building über einen wuchtigen Dieselgenerator, der die häufigen Stromausfälle zu jeder Tages- und Nachtzeit zuverlässig brummend überbrückte. Damit während der bei einem Stromausfall bis zum Anspringen des Generators unvermeidlichen Spannungsschwankung nicht sämtliche Rechner abstürzten, waren sie alle einzeln an Akkumulatoren angeschlossen, die permanent aufluden, bis es zum nächsten Stromausfall kam, um dann übergangslos den Netzstrom so lange zu ersetzen, bis die vom Generator gelieferte Spannung ausreichend und gleichmäßig war. Das Blue Building beherbergte außerdem eine wochentags gut besuchte Cafeteria. Sie konnte mit vorzüglichem Espresso-Macchiato und einem in aller Regel wohlschmeckenden Mittagessen aufwarten, das von einem Restaurant aus dem Stadtzentrum geliefert wurde. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft war das Rauchen im ICO noch nicht verboten, so daß die Kollegen ihre Zigaretten und ich meine Zigarillos einvernehmlich am Arbeitsplatz genießen konnten – eine der bürgerlichen Freiheiten, derer ich in Frankfurt schon vor Jahren verlustig gegangen war. Doch es dauerte nicht lange, bis die pädagogische Segnung des in Mode gekommenen Rauchverbots den Balkan erreicht hatte und auch bei uns Einzug hielt und jeden Raucher aus der Behaglichkeit seines Büros vertrieb. Allerdings verfügte das Gebäude an seiner rückwärtigen Front über zahlreiche, verwinkelte Feuerleitern mit Plattformen, die an jedem Stockwerk angebracht waren und jeweils bis zu drei oder vier Personen erlaubten, den Tabakkonsum einigermaßen geschützt an frischer Luft fortzuführen, oftmals mit besagtem Espresso-Macchiato und einem dienstlichen Schriftstück in der Hand und die letzten Neuigkeiten austauschend. Der Macchiato war nicht nur in der Cafeteria des Blue Building köstlich, sondern im ganzen Land. Das osmanische Erbe hatte auch sein Gutes. Und hier, auf dieser Feuertreppe, entstand auch der Begriff für unser Tun: Macchiato Diplomacy.
Mein erster Arbeitstag als Macchiato-Diplomat sollte der folgende Montag sein, der 18. Februar 2008. Aidan hatte mich bereits an diesem Samstag ins Blue Building gebracht, damit ich ohne Verzug in allen Sicherheitsbelangen instruiert und ausgerüstet werden konnte. Ich wartete einige Augenblicke gegenüber einem Pförtner hinter blaugetönter Panzerglasscheibe, der mich ebenso freundlich und interessiert musterte wie zuvor die Wache an der Sicherheitsschleuse. Dann erschien der Chef der Sicherheitsabteilung, die sich wie alle anderen Einheiten des ICO noch im Aufbau befand. Der hochgewachsene, schlanke Mann hieß Peter Kaminek und hatte ein freundliches, klares Gesicht und professionelles Auftreten. Als wir uns miteinander bekannt machten, stellte sich schnell heraus, daß er Tscheche und ehemaliger Infanterieoffizier war. Sein graumeliertes Haar stand ihm gut zu den blauen Augen, und er war angezogen wie ein Ranger: Stiefel aus GoreTex, olivgrüne Trekkinghose mit großen, von Multifunktionstaschenmesser und anderen Utensilien prall gefüllten Beintaschen, graues Flanellhemd mit Schulterklappen und hochgerollten Ärmeln, die stark behaarte, muskulöse Unterarme und eine Uhr samt Kompaß am Armband freigaben. Kamineks Büro war angefüllt mit Funkgeräten, Nato-Landkarten, einer großen, mit Notizen gespickten Wandtafel, einem mit Listen, Tabellen und sonstigen Unterlagen überhäuften Besprechungstisch, vier weiß bepinselten Stahlhelmen auf einem Metallregal an der Wand, daneben Schutzwesten und weitere Gegenstände wie Handlampen, Ladestationen und Verbandsmaterial, mit dem sich der Raum im Handumdrehen in einen paramilitärischen Gefechtsstand verwandeln ließ.
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