4In Anlehnung an Linssen, a.a.O., 233 ff.
5Vgl. dazu Artkämper, Kommunikation, bestätigende Informationsverarbeitung und Ankereffekt im Strafverfahren, StRR 2012, 339 ff.
6Strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur zur Vertiefung des Ankereffekts und anderer dort genannter Prinzipien: BGH, Beschl. v. 1.8.2018 – 5 StR 228/18; Effer-Uhe, DRiZ 2020, 18 ff.; Wehowsky, NStZ 2018, 177 ff.; Gerson, NStZ 2018, 379 ff.
7StV 2000, 159 ff.
8Sommer, Effektive Strafverteidigung, Rn. 115 ff.; Baumann, Schuld und Bühne, SZ-Magazin 17/2012.
9Vgl. Festinger, A Theorie of Sozial Comparison Processes, Human Relations 1954, Nr. 7, 117; Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter, StV 2000, 159 ff.(162).
10Vgl. z.B. Barton, Einführung in die Strafverteidigung.
11Interessante Beispiele bei: Schweizer, Bestätigungsfehler – oder wir hören nur, was wir hören wollen, Justice – Justiz – Giustizia, 2007/3 Rn. 3 ff.
12Vgl. Schünemann, a.a.O., 159 ff. (160).
13Vgl. Aronson u. a., Sozialpsychologie, 2008, 239 ff.
14Schweizer, a.a.O., Rn. 19.
15Bsp. bei Kaube, Wie entscheiden, worauf hören Richter?, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.10.2003 und Paulus, Das vorletzte Wort, DIE ZEIT vom 16.10.2003.
16Schünemann, a.a.O., 159 (162 f.).
17Schweizer, a.a.O., Rn. 19.
18Schünemann, a.a.O., 159 (160 ff.).
19Vgl. z.B. Kaube, a.a.O.; Paulus, a.a.O., einerseits und Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 371 f., andererseits.
20Beispiele bei Paulus, a.a.O.
21Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, 361 ff., 371 ff.
22Schünemann, a.a.O., 159 ff.(162).
4Transfer von Vernehmungen in die Hauptverhandlung
339 Die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung folgt eigenen Spielregeln. Juristen – Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter – scheinen Kriminalisten oftmals im Wege zu stehen, wenn es um die Wahrheitsfindung geht; dies hängt, wie zu zeigen sein wird, damit zusammen, dass hier unterschiedliche Wahrheitsbegriffe unerkannt zugrunde gelegt und stillschweigend vorausgesetzt werden. Für Kriminalisten schwer verständlich – ja teilweise skurril – sind die Spielregeln in der Hauptverhandlung; es geht um die Frage, was wie rekonstruiert werden kann 1und an welchen Stellen Sachverhalte dem Urteil zugrunde zu legen sind, die dem Akteninhalt und dem tatsächlichen Tatgeschehen teilweise diametral entgegenstehen. 2
Beispiel:
340Wenn etwa die Tochter einer Beschuldigten sich über den Polizeinotruf an die Polizei wendet, weil ihre Mutter gerade mit einem Messer auf den Vater eingestochen hat, so ist der erste Teil des Notrufes „Mama hat gerade mit einem Messer auf Papa eingestochen!“ auch bei Angehörigen als sogenannte Spontanäußerung, die von einem Strafverfolgungswillen getragen ist, verwertbar. Weitergehende Äußerungen der Tochter, die ohne Belehrung auf Nachfrage der Polizeibeamten erfolgen, unterliegen einem Verwertungsverbot. Auch wenn die Tochter noch während des Notrufes dann das weitere Tatgeschehen schildert und mitteilt, dass sie ihrer Mutter das Messer entwendet habe und es daher nicht zu einer weiteren Ausführung der Tat gekommen sei, kann der später prozessual festzustellende Sachverhalt sich von der objektiven Wahrheit weit entfernen. Wenn ohne richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren sowohl der Geschädigte als auch die Tochter im Rahmen der späteren Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen und die Angeklagte zur Sache schweigt, stellt sich für Staatsanwalt und Gericht die Frage, welcher Sachverhalt erwiesen werden konnte und einer Verurteilung zugrunde gelegt werden darf .
341 Obwohl der Staatsanwalt, der Berichterstatter 3und der Vorsitzende, ebenso wie die Angeklagte und der Verteidiger, den Akteninhalt und damit den Inhalt des Notrufes kennen, müssen sie sich an die Spielregeln halten. Es kann daher lediglich aufgrund der verwertbaren Spontanäußerung festgestellt werden, dass die Angeklagte auf den Geschädigten eingestochen hat. Entgegen dem aktenkundigen weiteren Geschehensablauf ist dann allerdings zugunsten der Angeklagten zu unterstellen, dass sie freiwillig die weitere Tatausführung aufgegeben hat und daher wirksam vom unbeendeten Versuch eines Tötungsdeliktes zurückgetreten ist. Eine Verurteilung kann daher allenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung, nicht aber wegen des tatsächlich vorliegenden versuchten Tötungsdeliktes erfolgen.
342 Dies gilt selbst dann, wenn die Tochter am Tag nach der Tat und nach ordnungsgemäßer – ggf. sogar qualifizierter – Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht bei der Polizei eine umfangreiche und detaillierte Aussage gemacht hat, die allerdings als nicht-richterliche Vernehmung nicht verwertet werden darf.
4.1Personal- und Sachbeweis
343 Der allgemeine Grundsatz der Rekonstruktion ist vom Unmittelbarkeitsprinzipund der Feststellung geprägt, dass der Personal- dem Sachbeweis vorgeht.
§ 250 StPO Grundsatz der persönlichen Vernehmung
Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer Erklärung ersetzt werden.
344 Dieser Grundsatz ist durch eine seit 2004 geltende Neuregelung in Teilbereichen relativiert worden und es ist ein erweiterter Urkundenbeweis möglichund zulässig.
§ 256 StPO Verlesung der Erklärungen von Behörden und Sachverständigen
(1) Verlesen werden können
1.die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen
a)öffentlicher Behörden,
b)der Sachverständigen, die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind, sowie
c)der Ärzte eines gerichtsärztlichen Dienstes mit Ausschluss von Leumundszeugnissen,
2.unabhängig vom Tatvorwurf ärztliche Atteste über Körperverletzungen,
3.ärztliche Berichte zur Entnahme von Blutproben,
4.Gutachten über die Auswertung eines Fahrtschreibers, die Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholgehalts einschließlich seiner Rückrechnung,
5.Protokolle sowie in einer Urkunde enthaltene Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen, soweit diese nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben und
6.Übertragungsnachweise und Vermerke nach § 32e Absatz 3.
(2) Ist das Gutachten einer kollegialen Fachbehörde eingeholt worden, so kann das Gericht die Behörde ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens in der Hauptverhandlung zu beauftragen und dem Gericht zu bezeichnen.
345 Wichtig ist insofern die Rückausnahmebei Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten, bei der weiterhin ausschließlich der Personalbeweis zulässig ist.
4.2Erscheinungsformen von Angaben im Ermittlungsverfahren
346 Angaben einer Auskunftsperson im Ermittlungsverfahren können als Informationen aus informatorischen Befragungen, Spontanäußerungen und Bekundungen im Rahmen einer Vernehmung stammen. Die häufigste und umfangreichste Informationsquelle aus dem Ermittlungsverfahren sind Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten. Diese wurden – ebenso wie die Vorgespräche – an anderer Stelle behandelt und ausführlich erläutert. 4
4.3Transfer des Personalbeweises in die Hauptverhandlung
347 Soll bzw. muss die Äußerung einer Auskunftsperson in die Hauptverhandlung eingeführt werden, ist danach zu unterscheiden, ob es sich bei ihr um einen Beschuldigtenoder einen Zeugenhandelt.
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