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Praxistipp: |
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Es macht keinen Sinn, weiter nachzufragen, was wirklich viel zu schnell ist; „ viel zu schnell eben “. Es wird deutlich, dass der Vernehmende offenkundige Wertungenauf das tatsächlich Wahrgenommene reduzierenmuss: „Was haben Sie gesehen?“ Die ernüchternde Antwort lautet: Ein fahrendes Auto – in diesem Beispiel –, mehr nicht. |
3.5.2Abfrage von Vergleichswerten
298 In solchen Fällen kann nur das Abfragen von Vergleichswerten helfen. „Schneller als ich laufen könnte, schneller als ein Radfahrer“.
299 Entfernungsschätzungensind in ihrer Fehleranfälligkeit geradezu beispielhaft: „Drei bis vier Meter“. Diese Angabe ließ sich bereits mehrfach relativieren auf das zehnfache, wenn nicht mehr. Ein normaler PKW ist etwa 4,50 m lang. Die ergänzende Frage danach, wie viele Autolängen das denn wohl waren, stützt sich zunächst auf die – meist nicht ausgesprochene – Annahme, dass ein Auto etwa zwei Meter lang ist. In der Vorstellung des Zeugen haben zudem hinterein ander abgestellte Autos nicht den nötigen Abstand, um ausparken zu können.
Beispiel:
300Die Aussage „fünf Autolängen“ beinhaltet
– in der Vorstellung des Zeugen: |
5 × 2 m = 10 m |
– tatsächlich: |
5 × 4,50 m + 4 × 2 m = 22,50 m + 8 m = 30,50 m |
301 Die Berechnung könnte allerdings auch umgekehrt proportional zutreffen. Wer nicht hinterfragt, welche Vorstellung ein Vernommener von Entfernungen hat, kommt keinen Schritt weiter. Seine Vorstellungen sollten sich dann natürlich auch an konkreten, messbaren Vergleichswerten orientieren.
302 In der Hauptverhandlung wird oft die Frage gestellt :„Wie weit ist der Richtertisch Ihrer Meinung nach denn vom Zeugenstuhl entfernt?“ Dies ist der Versuch, einen messbaren und objektiven Vergleichswert zu erlangen; allerdings erweist sich dieser Versuch als untauglich, da er nur zu einer weiteren Schätzung durch den Zeugen führt.
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Praxistipp: |
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Zutreffenderweise müssen daher Fragengestellt werden, die objektive Kriterienbeinhalten: „Wie weit waren Sie entfernt? Etwa so weit, wie wir hier auseinander sitzen?“ Bejaht der Zeuge diese Frage, ist ein objektivierbarer Wert – die nachmessbare Entfernung – gewonnen. |
304 Für die vernehmenden Beamten muss sich eine solche Frage direkt stellen. Bei Schätzungen müssen sofort und nach Möglichkeit auch in örtlichen Zusammenhängen stehende Vergleichswerte definiert werden, da nur so – und dies ist die Hauptsache – nachvollziehbare Angabenerlangt werden.
3.6Soziale Wahrnehmung und ihre Realisation durch den Vernehmenden
305 Polizeibeamte und Juristen pflegen nur zu leicht die Nase zu rümpfen, wenn es um soziologische und sozialpsychologische Erkenntnissegeht; allerdings dürfen sie die Augen nicht davor verschließen, dass eine Vernehmung ein Kommunikationsprozess ist, bei dem die sozialen Rahmenbedingungen das Ergebnis beeinflussen. 3
Beispiel: 4
306Eine angezeigte Vergewaltigung wird aus der Sicht der Zeugin (als Opfer) und des Vernehmenden (als objektivem Ermittler) unterschiedlich empfunden. Aber auch die Vorstellungen des Vernehmenden zur Tat, zum Opfer und dessen Persönlichkeit sind ausschlaggebend: Der „aufgeschlossene“ Vernehmende, der eine gewisse Sympathie mit dem Beschuldigten und dessen Lebensgewohnheiten bei wenig Empathie mit dem Opfer hat, begreift das Verfahren als falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat und Verleumdung. Ein eher „biederer“ Vernehmender mit Sympathie für das Opfer und wenig Verständnis für den „losen“ Lebenswandel des Beschuldigten wird hingegen eine Vergewaltigung sehen .
307 Die soziale Vorstellung des Vernehmenden, die von seinen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Zuschreibungen geprägt wird, nimmt entscheidenden Einfluss auf den Vernehmungsverlauf und dessen Ergebnis. „Bauchgefühl“ und „Schweinehundtheorie“ determinieren unbewusst die Wahrnehmung des Vernehmenden. Unwillentlich vorhandene kollektive Bewertungsmuster – sogenannte Frames– spielen eine Rolle. Eine Beeinflussung durch sie wird nicht vollständig auszuschließen sein, jedoch muss sich der Vernehmende der Existenz und Wirkung derartiger Frames bewusst sein.
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Praxistipp: |
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Frames beeinflussen ungewollt die Vernehmung; sie basieren nicht auf sachlichen Informationen. Der Vernehmende muss ihre Existenz kennen und seine Ermittlungsergebnisse vor diesem Hintergrund ständig mit den objektiven Befunden abgleichen. Selbstkritik ist hier vonnöten. |
3.7Bestätigende Informationsverarbeitung und Ankereffekt im Strafverfahren
309 Das Strafverfahren scheint in besonderem Maße von dem Gedanken der Gerechtigkeitgeprägt; häufig – etwa wenn es um die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise geht – wird durch den BGH und das BVerfG das Streben nach der objektiven Wahrheitsfindung fruchtbar gemacht, um eine Beweisverwertung zu rechtfertigen und ein materiell-objektiv richtiges Urteil zu bestätigen. All dies betrifft die Tatsachenfeststellungen, ohne aber zugleich ein „richtiges Urteil“ zu bedingen. Ein erster Schritt dahin besteht in der Wahrnehmung und Akzeptanz – vielleicht auch Berücksichtigung – von Störfaktoren bei der Entscheidungsfindung, die in anderen Wissenschaften anerkannt sind. 5
3.7.1Die „richtige“ Entscheidung
310 Die gerade genannten Bestrebungen sind allerdings nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wann überhaupt eine Entscheidung/ein Urteil „richtig“ist. Einige denkbare Antworten lauten
–sofern sie/es mit der Wahrheit (welcher?) korreliert,
–alle Verfahrensbeteiligten damit zufrieden (oder gar einverstanden) sind,
–sofern sie/es dem Gesetz entspricht (und in einem gesetzmäßigen Verfahren zustande gekommen ist),
–sie/es richtig begründet ist,
–wenn andere dieselbe Entscheidung/dasselbe Urteil gefällt hätten, bzw.
–sie/es das Ziel gleichmäßigen und der Gleichbehandlung verpflichteten Strafens erreicht.
311 Alle Varianten sind mehr als angreifbar und zum Scheitern verurteilt: Tatsachenfeststellungen sind vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die Soziologen und Psychologen (er)kennen, die aber der Gedankenwelt der Kriminalisten häufig vorenthalten bleiben: 6Begriffe wie „Schulterschlusseffekt“, „bestätigende Informationsverarbeitung“, „Inertiaeffekt“ und „Ankereffekt“ ziehen sich durch das gesamte Strafverfahren und prägen die Entscheidungsfindung. Schünemann hat – was als Arbeitshypothese durchaus tauglich erscheint – die Frage aufgeworfen: „Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?“ 7
312 Auch Sommer widmet sich der Emotionalität der Entscheidungsfindung und zitiert aus dem Erfahrungsbericht eines Schöffen: „Ich habe Urteile mitgetragen, die mir im Gerichtssaal sinnvoll vorkamen, die ich aber eine halbe Stunde später, daheim vor meiner Freundin, kaum mehr rechtfertigen konnte.“ 8
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