Er öffnete die Augen, mein Gehirn schaltete sich wieder ein und ich ging weg.
»Oh Scheiße«, rief Ivy.
Ich drehte den Wasserhahn im Hinterzimmer auf und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Ein paar Minuten später rief Ivy nach mir. »Hey, Kash. Kann ich, ähm, mit Ihnen reden?«
»Ja, gleich.« Ich riss mich zusammen und trat an sein Zellenfenster.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Auf dem Boden hört man nicht, wenn jemand kommt. Ich weiß, ich kann Ärger kriegen, weil ich mich entblößt habe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du ja nicht mit Absicht gemacht. Du hast nur getan, was … alle Jungs tun. Also mach dir keine Gedanken darüber.«
»Danke, Kash, ich weiß das zu schätzen.«
»Ich bin froh, dass dir die Zeitschriften gefallen haben, die ich dir gegeben habe.« Ich lächelte.
»Hm? Oh … der Playboy! Ja, der war cool.«
Ich ging zurück in den Lagerraum und las ein Buch. In der Friedhofsschicht gab es wenig zu tun, außer etwa alle zwei Stunden zu zählen. Und dazu musste ich nur von Tür zu Tür gehen, um sicherzugehen, dass alle Häftlinge noch da waren.
Irgendwann gegen 2 Uhr nachts saß ich hinten und tat mein Bestes, um wach zu bleiben, als ich seltsame Geräusche aus Ivys Zelle hörte. Neugierig, aber ängstlich, ihn wieder beim Wichsen zu erwischen, schaute ich durchs Fenster. Er schlug in seinem Bett um sich und stöhnte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich klopfte mit meinem Schlüssel an die Scheibe und er setzte sich rasch auf. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er Angst hatte und nicht wusste, wo er war.
»Ivy, ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er sah sich um und starrte mich eine Minute lang an, ehe er antwortete. »Ja, mir geht’s gut.«
»Erzähl mir keinen Scheiß. Irgendwas stimmt nicht. Willst du darüber reden?«
Er schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Das liegt alles in der Vergangenheit.« Er stand auf und ging zu seinem Waschbecken, drückte den Knopf für kaltes Wasser, nahm etwas davon in die Hände und spritzte es sich ins Gesicht. »Das hier ist meine Zukunft.«
Ich lehnte mich gegen die Tür. »Wie lange hast du vor dir?«
Er betrachtete mich mit einem Blick voller Traurigkeit und völliger Hoffnungslosigkeit. »Ich werde diesen Ort nie mehr verlassen.«
»Du bist ein Lebenslänglicher?« Ich war überrascht. »Was hast du angestellt?«
Er sah mich an und blickte dann schnell zur Seite. »Ich wurde wegen Mordes ersten Grades verurteilt. Das örtliche Büro des Innocence Project arbeitet an meinem Fall, aber ich mache mir keine Hoffnungen.«
Ich bemerkte am Tonfall seiner Stimme, dass er nicht darüber sprechen wollte, also ließ ich das Thema fallen.
»Okay, ich wollte nur sichergehen, dass es dir gutgeht. Du kannst wieder schlafen.«
»Das will ich nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hätte nur dieselben schlimmen Albträume.«
Ich massierte meinen Nacken und unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe Probleme, wach zu bleiben. Wir können reden, wenn du willst.«
Seine Mundwinkel wanderten nach oben. »Das wäre cool, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nein, gar nicht.«
Ich schob eine Kiste mit Toilettenpapier an den Rand des Raumes nahe der Tür. Wenn Ivy seitlich aus seiner Tür sprach, konnten wir einander gut genug hören. Die Häftlinge in der Nähe konnten uns allerdings auch hören, also musste ich vorsichtig sein, was wir sagten.
»Hatten die Träume mit deinem Fall zu tun?«, erkundigte ich mich.
»Nein«, antwortete er. »Mit Mist von früher.«
»Schlimmes Zeug, was?«
»Ja, ich hatte kein märchenhaftes Leben wie aus dem Bilderbuch. Aber das hat niemand wirklich, oder?«
»Ich jedenfalls nicht.«
»Es gab auch gute Zeiten, als ich ein Kind war«, gab er zu. »Aber dann änderten sich die Dinge und es ging alles den Bach runter. Ich war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt und meine Eltern nahmen meine Schwestern, meinen Bruder und mich mit auf einen Ausflug an den Lake Tahoe. Wir hatten so viel Spaß beim Spielen im Wasser. Ich wollte nicht nach Hause fahren. Das ist eine der letzten guten Erinnerungen, die ich habe.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Meine Mutter starb zwei Jahre später und dann ist mein Vater abgehauen.«
»Verdammt.«
»Meine älteste Schwester war gerade neunzehn geworden, also wurde sie unser Vormund. Für meinen älteren Bruder, meine jüngere Schwester und mich. Ich dachte, meine Eltern zu verlieren, sei schrecklich und es könne nicht schlimmer kommen. Aber es wurde schlimmer.«
Ich wechselte das Thema und erzählte Ivy davon, dass ich im Alter von sechs mit meinem Cousin in einer riesigen Schlammgrube stecken geblieben war, als wir unseren Onkel auf eine Baustelle begleitet hatten. Ich lächelte über die Erinnerung und war mir sicher, dass sogar Ivy ein wenig kicherte.
Montagmorgen. Zwischen Davis und mir war alles wieder so wie am Anfang. Er lachte und scherzte und ich hätte schwören können, dass wir sogar ein bisschen flirteten. Aber ich tat es als überbordende Fantasie ab.
Wir begleiteten Ivy zur Dusche und beschlossen dann, seine Zelle zu inspizieren. Es gab nicht viel Zeug in Ivys Zimmer. Ein paar Papiere, die Zeitschriften, die ich ihm gegeben hatte, und Essen, das er von einigen Mahlzeiten aufgehoben hatte.
Ich drehte die Matratze um und sah eine umgedrehte Zeitschrift. Ich schnappte sie mir und war überrascht, als ich den Oberkörper auf dem Cover sah. Ein Schwulenmagazin. Ivy war … schwul? Ich weiß nicht, warum mich das überraschte. Ich hatte im Laufe der Jahre mehr als nur ein paar homosexuelle Insassen kennengelernt und meistens erkannte ich sie sofort. Aber bei Ivy hatte mein Gaydar nicht einmal geblinkt.
»Was ist das?«, fragte Davis.
Ich versuchte, die Zeitschrift zu verstecken, bevor er sie sah. Ich war mir nicht sicher, wie verständnisvoll oder ablehnend er sein würde, und ich wollte nicht, dass er auf Ivy herumhackte. Er schnappte sich die Zeitschrift und öffnete sie.
»Oh Mann«, gluckste er. »Ivy ist schwul! Das hätte ich nie vermutet.«
Ich erwartete, dass er einen Schwulenwitz reißen oder eine abfällige Bemerkung über Ivy machen würde. Er tat nichts dergleichen und was er tat, überraschte mich ebenso sehr wie die Erkenntnis, dass Ivy schwul war.
Davis blätterte durch die Seiten, stoppte und zeigte mir ein Bild. »Sieh dir den Schwanz von dem Kerl an. Er ist verdammt riesig.«
Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Ich starrte Davis nur an. Die Verwirrung in meinem Gesicht muss offensichtlich gewesen sein, denn er lächelte mich an.
»Was? Ich bin selbstbewusst in meiner Sexualität. Schwule oder Bilder von nackten Männern machen mir nichts aus. Herrgott, wenn ich so einen Schwanz hätte wie dieser Typ, würde ich wahrscheinlich auch versuchen, jedes Loch zu ficken, das ich finden kann.« Er warf die Zeitschrift auf die Pritsche und ging raus.
Ich stand noch einem Moment sprachlos da, bevor ich mich zusammenriss und Davis folgte.
***
»Kash, kann ich mit Ihnen reden?«, fragte Ivy, als ich an seiner Zelle vorbeiging. Ich hatte ein paar Papiere aus dem Hinterzimmer geholt und war auf dem Weg zur Blase, um mein Mittagessen einzunehmen.
»Was gibt’s?« Ich blieb stehen und spähte durchs Fenster.
»Mir ist aufgefallen, dass Sie heute meine Zelle durchsucht haben. Ich nehme an, Sie haben mein … Magazin gesehen.«
»Ja, habe ich. Und?«
»Ich hatte gehofft, es würde Sie nicht stören. Sie waren so cool zu mir und ich würde Sie ungern verärgern. Sie sind der Mensch, der für mich einem Freund am nächsten kommt.« Er brach plötzlich ab, als hätte er etwas Falsches gesagt, und er wusste es.
Technisch gesehen sollten Wärter und Häftlinge keine Freunde sein. Es musste eine professionelle Distanz herrschen und ich hatte diese Grenze nie überschritten. Ich hatte die Grenze gestreift, als ich mit Ivy über mein Privatleben gesprochen hatte, aber mehr nicht. Ich war öfter in der Lage gewesen, Kontakt zu Insassen herzustellen und eine brauchbare Arbeitsbeziehung mit ihnen aufzubauen, aber es gab keinen, den ich als Freund betrachtet hätte.
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