Veit stellt eine Ausnahme unter den Hamburger Christen dar. Als Maler ist er kürzlich aus der deutschen Künstlerkolonie in Rom zurückgekehrt. Die Stadt Rom ist vielfältig symbolisch aufgeladen: als religiöser und kultureller Gegenpol zur Stadt Jerusalem, als Sehnsuchtsort dänischer und deutscher Literaten und Künstler im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert und darüber hinaus auch ganz konkret als Ort, an dem die sogenannten Nazarener wirkten und arbeiteten. Diese Künstlergruppe orientierte sich stilistisch an der Malerei der italienischen Renaissance und stellte vor allem religiöse Motive in den Mittelpunkt ihres Kunstschaffens. Äußerlich ähnelt Veit selbst einem Renaissancegemälde, denn er ist gekleidet „i gammeltydsk Dragt og med lange gule Lokker om den hvide Krave [in altdeutscher Tracht und mit langen goldenen Locken über dem weißen Kragen]“, wie es in Rom „almindelig blandt Konstnerne [üblich unter den Künstlern“] ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Veit, dessen Berufung das Malen ist, ist derjenige, der sehen und das Gesehene in ein Kunstwerk umsetzen kann. Diese Fähigkeit zu sehen zeigt sich bereits, als er als einziger der Hausgäste im Hause Isaaks den alten Juden in seiner Ecke wahrnimmt und sich ihm gegenüber angemessen respektvoll zeigt. Es drückt sich aus, indem er Benjamines Gefühlsregungen erkennt und körpersemiotisch liest, ohne dass sie sie formulieren muss (oder darf oder kann). Am deutlichsten zeigt es sich aber, als Benjamine am Krankenbett ihres Großvaters sitzt und Veit sie und ihren Großvater malt:
Tidt, naar Benjamine havde læst den Gamle til Ro og sad stille med den hellige Bog i sin Haand ved hans Leie, medens han slumrede, og det herlige Oldingsaasyn smilede beroliget til hende i Drømme – sad Veit med sin Pensel ligefor dem og afbildede dem begge. For Benjamines Sjæl gik et underfuldt Lys op ved hvad hun læste for den Gamle og hvad hun talede med den fromme Maler om den hellige Bog, som indeholdt Kilderne baade til hendes og til hans forskjellige Troesbekjendelse. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 116)
Oft, wenn Benjamine den Alten durch ihr Lesen zur Ruhe gebracht hatte und still mit dem heiligen Buch in der Hand an seinem Lager saß, während er schlummerte und das herrliche Greisengesicht ihr im Traum beruhigt zulächelte – saß Veit mit seinem Pinsel gleich vor ihnen und bildete sie beide ab. Vor Benjamines Seele ging ein wundervolles Licht auf durch das, was sie dem Alten vorlas und was sie mit dem frommen Maler über das heilige Buch sprach, das die Quellen ihrer beider unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse enthielt.
Die Quellen ihres eigenen Glaubensbekenntnisses liegen gedruckt auf vielen Seiten in ihrer Hand und stellen seine Grundlage dar. Jedoch liest sie aus dem Neuen Testament vor. Die Worte durchdringen ihre Seele, und dies ist just der Moment, in dem Veit das Porträt von ihr anfertigt. Diese Szene ist der Schlüsselmoment, in dem Sehen und Gesehenwerden, Erkennen und Erkanntwerden kulminieren. Der an sich unfassbare und unkörperliche Moment der religiösen Erleuchtung wird durch den Künstler auf Leinwand festgehalten, sichtbar gemacht, in Materie gefasst. So wiederum lässt sich die Szene literarisch fassen und erzählen, indem erzählt wird, was der Maler sieht. Doppelt festgehalten, in Öl auf Leinwand und in Druckerschwärze auf Papier, gefasst in den Holzrahmen der Leinwand und in den Einband der Novelle, gelingt es dem Künstler – dem Maler Veit ebenso wie dem Autor IngemannIngemann, Bernhard Severin –, den Moment göttlicher Erweckung festzuhalten und nachvollziehbar zu machen. Gemeinsam mit Veit und dem Erzähler betrachtet der Leser Benjamines Erweckung. Benjamine selbst wiederum zeigt kein Bewusstsein gegenüber diesem Gesehenwerden, reagiert nicht aufs Gemaltwerden. Sie ist ganz erfüllt von Gottes Wort und dem Heiligen Geist, der sie in diesem Moment durchdringt. Es ist eine intime Situation, die bei aller räumlichen Distanz, die zwischen dem Malenden und der Gemalten besteht, auch erotisch konnotiert ist. Benjamine gibt sich Veits Blick hin, sie empfängt, was Veit ihr anbietet: erst die Zeichenstunden, nun den geschützten Raum und die christliche Bibel – und gibt sich vertrauensvoll in seine Hände. So treibt Veit ihre Entwicklung voran und kann sie dabei in Ruhe betrachten und seinen Blick in Benjamines Seele für immer auf Leinwand festhalten.
Gänzlich außerhalb dieses Moments des Sehens und Erkennens, den Veit auf seinem Porträt archiviert, befindet sich der alte Rabbiner, der im Fieberschlaf weder die entflammende Liebe zwischen Veit und Benjamine wahrnehmen noch die Worte, die Benjamine ihm aus dem Neuen Testament vorliest, verstehen kann. Auch ihn porträtiert Veit, und auch Philip Moses ist sich des Porträtiertwerdens nicht bewusst, doch liegt das nicht am Zustand der seelischen Entrückung, sondern am Fieberschlaf, in dem sich bereits sein naher Tod ankündigt. Veit jedoch ist in der Lage, auch Philip Moses in die Seele zu blicken. Denn dies ist, so legt es der Text nahe, die vornehmste Fähigkeit des Künstlers: das wahre Wesen der Welt zu erkennen und darzustellen. Veit sieht, dass die Worte des Evangeliums auch auf den schlafenden Juden beruhigende Wirkung haben, sieht, wie sie aus dem verzweifelten Hiob einen aufgerichteten Simeon1 machen. Er erkennt damit mehr, als es Philip Moses selbst in diesem Moment vermag, und so nimmt der Pinsel des Künstlers den Ausgang der Novelle und die Hinwendung des Juden zum Christentum prophetisch vorweg. Die jüdischen Figuren dienen als poetischer Nährboden für die literarische Darstellung des Künstlers und die literarische Reflexion über Kunst. Die Novelle schreibt sich damit deutlich in den kunstreligiösen Diskurs der deutschen Romantik ein, den Hartwich folgendermaßen beschreibt:
Die romantische Weltanschauung baut einen polemischen Gegensatz zwischen dem göttlich begabten Künstler und den das Weltliche vergötzenden Philistern und Juden auf. Die kunstreligiöse Frontstellung wird aber immer wieder in Bildern der hebräischen Bibel exponiert und verrät so ihre religionsgeschichtliche Herkunft aus der ‚Mosaischen Unterscheidung‘. (Hartwich 2005: 23)2
Im Verständnis der Romantik ist Veit als Künstler mit göttlichem Genie begabt. Benjamines und Philip Moses’ Weg ins Christentum ist an die Figur des Künstlers Veit gekoppelt. Doch auch umgekehrt sind Veits religiöser Weg und seine literarische Darstellung von den beiden jüdischen Figuren bestimmt. Veits Genie drückt sich in seiner Gabe zu sehen und zu schaffen aus, und für die literarische Darstellung dieses Genies bedarf es in dieser Novelle der beiden jüdischen Figuren. Veit sieht (= erkennt) Benjamine und Philip Moses und er erschafft Bildnisse von beiden, verdoppelt und bestärkt ihr Dasein in der Welt und wird auf diese Weise ihr Schöpfer.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat in seiner bahnbrechenden Untersuchung Außenseiter die Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Außenseiter, zu denen Juden ebenso wie Frauen gehören, herausgestellt. Mayer zufolge sind Juden und Frauen (und als dritte Gruppe [männliche!] Homosexuelle) gleichermaßen „existenzielle[…] Außenseiter“, die „immer wieder insgeheim miteinander verbunden werden“ (Mayer 1981: 21; vgl. auch Braun 1992; Schnurbein 2006; Schößler 2009). Der Erzähler der Novelle Den gamle Rabbin nimmt einen dezidiert christlichen (und männlichen) Standpunkt ein und richtet den Blick von außen auf „die Juden“. Dabei kontrastiert er das romantisch-religiöse Idealbild „des Juden“ mit verschiedenen anderen jüdischen Lebensentwürfen, in denen die jüdischen Figuren den Weg der Säkularisierung gehen und sich von der althebräischen Mythologie entfernt haben. Der Text entwirft mit Philip Moses ein Bild vom perfekten (oder wünschenswerten) Juden, ebenso wie mit Benjamine ein Bild von der perfekten (oder wünschenswerten) Frau. Diese ist zwar aufgrund ihres Geschlechts und ihres Judentums gleich doppelt als Außenseiterin markiert, jedoch wird sie im Moment ihres innerlichen Glaubensübertritts porträtiert, das heißt, dass sie ihr Jüdischsein im Moment des Gemaltwerdens überwindet. Die literarischen Bilder werden durch die Gemälde Veits verdoppelt, und die Novelle verweist so auf ihren eigenen Verfasser, der als Autor ebenfalls ein Künstler ist. Er entwirft das Bild eines ‚edlen Juden‘, einer ‚schönen Jüdin‘ und eines christlichen Künstlers, der wiederum das Bild dieses ‚edlen Juden‘ und dieser ‚schönen Jüdin‘ malt. Wie der Maler Gemälde herstellt, produziert auch der Text, beziehungsweise dessen Autor, literarische Bilder. Die Bilder des Malers bilden das Innerste der beiden jüdischen Figuren ab und stellen diese Bilder im Text zur selben Zeit erst her. Die fiktive Leinwand wird zur Projektionsfläche des Malers und zugleich des Autors.
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