Trugst Du als Kind auch ein Gewehr in grüner Armschlinge?
Wenn es losging, entflog ein angebundener Stöpsel dem Lauf.
Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,
Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf!
Denn ich habe alle Schicksale durchgemacht. Ich weiß
Das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen,
Das Gefühl von schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis,
Das Gefühl von Debutanten, die sich zitternd vor den Soufleurkasten [!] stellen.
Ich lebte im Walde, hatte ein Bahnhofamt,
Saß gebeugt über Kassabücher und bediente ungeduldige Gäste.
Als Heizer stand ich vor Kesseln, das Antlitz grell überflammt
Und als Kuli aß ich Abfall und Küchenreste.
So gehöre ich Dir und Allen!
Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!
O, könnte es einmal geschehn,
Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!“ (E, S. 110f.)
In der Ausgabe letzter Hand von 1946 ändert WerfelWerfel, Franz die Interjektion und nun heißen die entsprechenden Verse 1 und 19: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!“, und: „Oh, könnte es einmal geschehn“ (G, S. 17).78 Im Erstdruck schließt sich an das Gedicht An den LeserAn den Leser noch dieses an: An den Leser in der Nacht , womit Werfel seinen Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund beschließt. Auch darin taucht die Formel „O Mensch, ich bin dir gut!“ (E, S. 112) auf, allerdings übernimmt der Autor den Text nicht in seine letzte Gedichtausgabe. Galt das ursprüngliche ‚o‘ in Werfels ersten Gedichten noch als meist admirativer Auf- und Ausruf, so wird es in der Fassung letzter Hand von 1946 zu einem Klagelaut ‚oh‘.
An den Leser ist ein „exemplarischer Beleg für einen dominanten Effekt der rhetorischen Verwendung des Wortes“79. Auf dieses Gedicht, und damit auf Werfel, soll also das O-Mensch-Pathos zurückgehen. Es ist aber mehr als nur ein rhetorischer Effekt. Ernst TollerToller, Ernst hat das später in seiner Autobiografie Eine Jugend in DeutschlandEine Jugend in Deutschland (1933) so ausgedrückt, es gehe um „die einfache Wahrheit Mensch“80. Alle Menschen sind Brüder. Das untereinander Verbindende ist nach Werfels Gedicht das Gefühl. Dieses beschworene und besungene, oft aber auch als nicht vorhanden beklagte Gemeinschaftsgefühl wird ein konstitutives Merkmal expressionistischerExpressionismus Lyrik. Gerade angesichts der sozialen Entfremdung durch Industrialisierung, Ersten Weltkrieg und entsprechende Großstadterlebnisse mit Lärm, Verkehr, gigantischen Bauten und sozialer Kälte bekommt diese Beschwörung des Gemeinschaftsgefühls den Charakter eines letzten Aufrufs an die Vernunft des Menschen im Zeichen der Moderne.
Aus dem Weltfreund hat Werfel in E nur neun Gedichte übernommen. Diese Auswahl empfand er offenbar als repräsentativ für seinen lyrischen Beginn und wollte sie in der Auswahl letzter Hand bewahrt wissen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende in G in dieser Reihenfolge aufgenommenen Gedichttitel: 1.) Ich, nur ich (in E unter dem Titel: Der Dichter ; der Text ist als ein Motto vorangestellt; vgl. E, S. 90), 2.) An den Leser , 3.) Der dicke Mann im Spiegel , 4.) Morgengesang eines Lumpen (in E unter dem Titel: Solo des zarten Lumpen ; vgl. E, S. 81), 5.) Der Getreue , 6.) Nächtliche Kahnfahrt (in G mit dem geringfügig erweiterten Titel Nächtliche Kahnfahrt und Erinnerung ), 7.) Der schöne strahlende Mensch , 8.) Wanderlied , 9.) Ich habe eine gute Tat getan . Der WeltfreundDer Weltfreund ist aufgeteilt in die Gliederungsschemata, die nur schwer als Kapitel zu bezeichnen sind, Kindheit, Rührung und vermischte Gedichte (vgl. E, S. [5]-52), diese Überschrift fehlt allerdings, im Gegensatz zu den beiden anderen, im Inhaltsverzeichnis (vgl. E, S. 114), Bewegungen (vgl. E, S. [53]-73) und Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, S. 7[5]-113). Insgesamt enthält der Gedichtband Weltfreund 68 einzelne Gedichte.
1946 wählt WerfelWerfel, Franz einige seiner Gedichte für den Band Gedichte aus den Jahren 1908–1945 aus, der als Privatdruck der Pazifischen Presse 1946 in Los Angeles erscheint. Werfel erleidet während der Arbeit an diesem Band einen Herztod. Seine Witwe Alma Mahler-WerfelMahler-Werfel, Alma schreibt dazu:
„Ich übergebe diesen Band Gedichte der Öffentlichkeit mit dem tiefen Wissen, daß sie ein wesentlicher Teil des unsterblichen Werkes von Franz Werfel sind. Er hat in den letzten Monaten seines Lebens aus seinen Gedichten diejenigen ausgewählt, die ihm die schönsten dünkten, und bis zum allerletzten Augenblick an dieser Auswahl gearbeitet – immer wieder gefeilt – und neue Dichtungen für dieses Buch, das ihm sehr am Herzen lag, geschaffen.“ (G, S. 216)
Nach dem Neudruck dieser Ausgabe letzter Hand (1946) von 1992 zitiere ich im Folgenden Werfels Gedichte. Das Gedicht Der Dichter (vgl. E, S. 90) verwendet Werfel in der Ausgabe letzter Hand (1946) als Motto, das er nun der Auswahl voranstellt. Es beginnt mit den Versen: „Ich, nur ich bin wie Glas / Durch mich schleudert die Welt ihr schäumendes Uebermaß“ (n.p. [= S. 15]). Das ist Werfels unmissverständliches autopoetologisches Postulat. Dieses postulierte „Ich, nur ich“ erinnert an die Exklusivitätsformel, die auch der junge GoetheGoethe, Johann Wolfgang in Anspruch nimmt. „Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“81, schreibt er nach einer knappen Einleitung zu Beginn seines Essays Zum Schäkespears TagZum Schäkespears Tag vom September 1771 und setzt damit eine Art Individualitätsmarke. Dieser Text gilt als einer der Initialtexte der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang. Dieses literarisch-autonome Selbstbewusstsein zitiert auch der junge Werfel. Explizit wird dies darüber hinaus in dem Gedicht Die Freundlichen deutlich, worin fünf Figuren auftreten, ein Liebender, ein alter Herr, die hübsche junge Dame, ein alter Dichter und der gute Geist (bestimmter und unbestimmter Artikel der Figuren nach dem Wortlaut des Gedichts); es heißt darin, und WerfelWerfel, Franz lässt diese Worte einen alten Dichter sprechen:
„Eh ihr in die starre Kühle
Losgelösten Daseins steigt,
Fördert eure Selbstgefühle
Gegenseitig euch geneigt!
Seid ihr eignen Werts bewußt,
Müßt ihr richtig überfließen
Denn ihr könnt die ganze Lust
Euch durchwandelnd erst genießen.“ (E, S. 40f.)
Fast schon als Zitat taucht diese kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Individualitätsformel im Gedicht Selbstgespräch wieder auf. Dort sagt das Ich: „Ich! will!“ (E, S. 58) Kaum verwunderlich ist es, dass sich daran das Sonett Große Oper anschließt, in dem zwei Mal die Interjektion ‚o‘ als Sehnsuchtswort eines phantasierten Dirigats des lyrischen Ichs verwendet wird. Werfels Autopoetik verschafft sich auch im Gedicht Der Patriarch Gehör. Das Ich phantasiert sich nun als einen Patriarchen, der gebieten kann und dessen Worten gefolgt wird:
„Woher und wann ich kam, o Bardenlied, doch mein Besuch
Heilt Kranke, meine Stimme schallt, die Seenot abzuwehren.
Göttlich erglänzt mir Stirn und Bart. Das Volk wird beide ehren,
In fernem Angedenken segnend Tat und Spruch.“ (E, S. 71)
Werfels Individualitätsmarke ist programmatisch, allerdings genügen nicht alle Gedichte des Weltfreunds diesem Anspruch. Man muss die Spreu der Gelegenheitsgedichte und der Gedichte im konventionellen Ton vom Weizen jener Gedichte, die den neuen Ton expressionistischerExpressionismus Selbstgewissheit beanspruchen, trennen.
Im Gedicht Verwandlungen wird die Interjektion ‚oh’ unmissverständlich mit dem „Schmerz“ (E, S. 78) verknüpft, der die Ursache aller Gefühle und „Urgott“ (E, S. 78) sei. „Oh, dann wirf Dich in die eigene Flamme!“ (E, S. 78), klagt der Autor. Dass es sich bei diesem Schmerz ausschließlich um Seelenpein handelt, geht aus dem Gedicht selbst hervor.
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