Das Gedicht Solo des zarten Lumpen , das in G den Titel trägt Morgengesang eines Lumpen (vgl. G, S. 20f.), weist nur eine kleine Textänderung gegenüber dem Erstdruck auf. In der dritten Strophe heißt es in E: „Heiraten wirst du bald, wirst Mutter werden!“ (E, S. 81), während in G zu lesen ist: „Du wirst ein Weib sein, du wirst Mutter werden“ (G, S. 20). WerfelWerfel, Franz hat also in der Ausgabe letzter Hand (G) an dieser Stelle in den Text eingegriffen, vielleicht war ihm die ursprüngliche Formulierung zu süßlich? Das lyrische Ich ist hier der vagabundierende Solist, hinter dem sich unschwer der junge Autor verbirgt.
Die Bedeutung der admirativen Interjektion ‚o‘ geht eindeutig in diesem Ausruf der Dampferfahrt im Vorfrühling hervor: „O heldischer Kampf am Himmel!“ (E, S. 85), und „O Tanzlokale am Ufer, o Brüder, o Dampfer“ (E, S. 86), um gleich im darauf folgenden Gedicht Der schöne strahlende Mensch , das in G übernommen wurde (vgl. G, S. 20f.), durch die Wehklage der Interjektion ‚oh‘ abgelöst zu werden: „Oh Erde, Abend, Glück, oh auf der Welt sein!!“ (E, S. 87). Dieses ‚oh‘, das also in G erhalten bleibt, kombiniert mit den doppelten Ausrufezeichen, zitiert vielleicht (zumindest aus der Rückschau) ironisch die postromantische Weltschmerzlyrik.
Mit dem Gedicht Der Weltfreund singt nimmt Werfel das Titelwort seines Debütbandes wieder auf. Insgesamt variiert er diesen Weltfreund noch drei weitere Male mit den Gedichten Der Weltfreund, hoher Vollendung zuschreitend – hier ist besonders die Verwendung des Partizip Präsens Aktiv signifikant, da es die Prozesshaftigkeit und Augenblicklichkeit der sukzessiv zu erreichenden Vollendung des Weltfreund-Dichters unterstreicht, was kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich die Wiederaufnahme des aufgeklärten Perfektibilitätsgedankens des 18. Jahrhunderts bedeutet. Ferner in Der kriegerische Weltfreund (E, S. 103) und Der alte Weltfreund (E, S. 108).Expressionismus82 Die Gedichte dieses dritten Teils sind immerhin auch unter die Überschrift gestellt Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, u.p. [= S. 75]). In Der Weltfreund singt kombiniert Werfel zudem die Schmerzklage mit der Lustbewunderung, wobei die letztere siegt: „O Lust ist schön, und Schmerz, sei hochverehrt!“ (E, S. 88). Zumindest in diesem Gedicht ist die Entscheidung zwischen ‚o‘ und ‚oh‘ gefallen. Bemerkenswert ist außerdem, dass Werfel in diesem Gedichttext ein Wort gebraucht, das sich mutmaßlich aus dem Tschechischen herleitet, „Gluthvânz!“ (E, S. 88, das ‚â‘ ist im Druck durch eine lateinische Letter hervorgehoben), das der Dichter als „bedauernswert“ bezeichnet und das zumindest wiederum die Kontextualisierung mit dem Umfeld des Prager Kreises erlaubt.83
Die Triumph Ode , die bereits im Titel die Haltung und Positionierung des lyrischen Ichs im zeitgenössischen lyrischen Diskurs deutlich macht, verkündet nochmals WerfelsWerfel, Franz Anspruch, den er mit dem WeltfreundDer Weltfreund verbindet. Es heißt:
„O kommt mir nah!
Kommt mir nah!
Ich bin eine heiße, rotglühende Platte
Rollt euch und zerfallt
Wie dünne Blätter!
Oder folgt mir!
Folgt mir!
[…]
Lärmt und rast!
Rast und lärmt!
Meine Stimme ist gewaltig,
Edel und hoch!
Wie steigt sie schon
Ueber eure schmutzige Mittellage.“ (E, S. 91f.)
Das Insistierende und Repetierende der einzelnen Verse hebt den Anspruch, eine neue und eine eigene Stimme in der frühexpressionistischenExpressionismus Lyrik zu sein, unmissverständlich hervor. In Hundertfaches Dasein fasst dies Werfel mit einer Formel zusammen, die seine Haltung auf den Punkt bringt: „Denn Existenz ist Mittel, Wirkung alles“ (E, S. 94).
In Mitleid mit manchen Worten fängt Werfel die Stimmung des Perspektivenwechsels und der neuen lyrischen Sprechweise ein. „Ihr armen Worte, abgeschabt und glatt“ (E, S. 100), heißt die erste Zeile, die direkt mit den letzten Zeilen korrespondiert, welche sich wieder der Klage-Interjektion bedienen: „Oh, dann von Mitleid durchschüttert, schüf ich aus euerm mißachteten Klang / Am liebsten den hehrsten, heißesten Gesang“ (E, S. 100).
Das Gedicht Du braver Mensch! rekapituliert gleichsam die Bedeutung der Interjektion. Gleich sieben Mal taucht das ‚o‘ auf und leitet damit das frühexpressionistische O-Mensch-Pathos ein, auch wenn diese Initiation von der Forschung für das Gedicht An den Leser in Anspruch genommen wird.84 Der brave Mensch wird mit dem guten und treuen Wort verknüpft, so dass ein neuer Mensch unausgesprochen auch ein neues Wort fordert.
Die Auswahl in G schließt mit dem Gedicht Ich habe eine gute Tat getan , das auch das viertletzte Gedicht in E darstellt. Das Gedicht kann als WerfelsWerfel, Franz autopoetologischer Rückblick verstanden werden. Im Rückblick auf seinen ersten Gedichtband wählt er nicht jene Gedichte aus, die zeitgenössisch initial-expressionistischExpressionismus gewirkt haben, sondern jene, die für ihn sein lyrisches Debüt resümieren. Die gute Tat, die er getan hat, besteht eben darin, jenes Initial oder jene – nach Genette – Matrix zu geben, mit deren Hilfe expressionistische Lyrik entstehen und sich vernetzen konnte. Zunächst ist der Titel Ich habe eine gute Tat getan aber auch eine Allusion auf die Worte des Apostels PaulusPaulus im Zweiten Brief an TimotheusZweiter Brief des Paulus an Timotheus : „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten“ (2. Tim 4, 7). Natürlich kann das Gedicht auch als ein nur unschwer zu dechiffrierendes Liebesgedicht gelesen werden. Darüber hinaus beansprucht es aber lyrikgeschichtlich gesehen eine besondere, eben expressionistische Individualitätsmarke, es enthält auch die Absichtserklärung, zukünftig „tausend gute Taten“ (E, S. 105) tun zu wollen. Und wiederum aus der Retrospektive Werfels betrachtet ist es genau dies, mit seiner Lyrik diese Taten getan zu haben. Das lyrische Ich des Gedichts genießt die Allliebe, die Erkenntniswonne, Gefühle und Wohlwollen, Befriedigung und Dankbarkeit erfährt es – dies sind Worte des Gedichts. Das Ich resümiert: „Das Buch, das ich lese / Blättert von selbst sich auf“ (E, S. 106), es ist das Buch expressionistischer Lyrik, in dem der junge Werfel blättert und das ihn in seinen Bann zieht. Die letzten Verse dieses umfangreichsten Gedichts aus dem Weltfreund lauten:
„Ich habe eine gute Tat getan,
Voll Freude und Wohlwollens bin ich
Und nicht mehr einsam
Nein, nicht mehr einsam.
Frohlocke, mein Herz!“ (E, S. 107)
In G kommt beim Vers „Und nicht mehr einsam“ lediglich noch ein Komma hinzu und heißt demnach: „Und nicht mehr einsam,“ (G, S. 28). Der Ton bleibt durchaus psalmodisch und der Wortlaut verweist unter anderem auf Psalm 13, 6. Ich habe eine gute Tat getan bilanziert also aus der Sicht des späten Werfel seine Leistung. Diese besteht darin, dass er die Öffnung dieser expressionistischenExpressionismus Matrix im WeltfreundDer Weltfreund vollzieht. Die Gedichte aus diesem Band sind vor allem autopoetologische Ichphantasien, welche versuchen, die zunehmende Dissoziation von Ich und Welt in der ModerneModerne sprachlich einzufangen.
Die Themen des WeltfreundsDer Weltfreund kreisen um den Verlust der Kindheit (vor allem im ersten Teil), um Natur, Liebe und Selbstvergewisserung. Besonders diese Frage nach dem ‚Wer bin ich?‘ und danach, wie ein zeitgemäßes lyrisches Sprechen aussehen kann, ist in den programmatisch zu nennenden, mindestens autopoetologischen Texten sichtbar. Die Wahl des Metrums ist nicht spektakulär. Die meisten Gedichte bedienen sich des Jambus, einige als Oden oder Hymnen angelegte Gedichte greifen auf andere Metren aus. Über die Bedeutung des Reims schreibt WerfelWerfel, Franz in seinem 1938 entstandenen und in G aufgenommenen Sonett Der Reim :
Читать дальше