Alena Mornštajnová - Hana

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Ein mährisches Städtchen 1954 – Mira widersetzt sich ihren Eltern und geht aufs Eis. Zur Strafe erhält sie kein Törtchen, aber dieses Ereignis verändert ihr Leben für immer. Die Tragödie bindet sie an ihre schweigsame, seltsame Tante Hana und beide müssen lernen, miteinander zu leben. Allmählich wird die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren aufgedeckt und Mira lernt zu verstehen, warum sich die Tante so schwer im Leben zurechtfindet.
Drei Generationen Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Zwei geschickt verwobene Zeitebenen und Schicksale in grausamen Zeiten. Zwei Frauen haben sich neben dem durchlebten Leid aber auch mit der Frage der Schuld auseinanderzusetzen, wenn durch eigenes Handeln anderen Leid zugefügt wird, bewusst oder unbewusst. Und wie erträgt man, als Einzige überlebt zu haben.
Die Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, ist in einem mitreißenden Tempo geschrieben, dramatisch wie ein Film. Alena Mornštajnovás mehrfach preisgekrönter Roman ist in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt worden und in Tschechien ein Bestseller.

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MORNŠTAJNOVÁ • HANA

Zur Aussprache tschechischer Buchstaben mit diakritischen Zeichen:

á langes a
Č, č stimmloses tsch wie in Tschechische Republik
é langes e
ě je
í langes i
ň nj
ř gerolltes r gleichzeitig mit stimmhaftem sch
Š, š stimmloses Sch, sch wie in Schule
t’ tj
ú, ů langes u
ý langes i
Z, z stimmhaftes S, s wie in Rose
Ž, ž stimmhaftes sch wie in Journal

ALENA MORNŠTAJNOVÁ

Hana

Roman

Aus dem Tschechischen

von

Raija Hauck

Hana - изображение 1

Die Herausgabe dieses Buches wurde vom Kulturministerium der Tschechischen Republik unterstützt.

Hana - изображение 2

Originaltitel: Hana

© HOST, Brno 2017

Umschlaggestaltung nach einem Werk von Veronika Kopečková

Hana - изображение 3

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Tel. +43(0)463 370 36, Fax. +43(0)463 376 35

office@wieser-verlag.com

www.wieser-verlag.com

Copyright © 2020 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Josef G. Pichler

ISBN 978-3-99047-109-8

ERSTER TEIL

Ich, Mira

1954–1963

ERSTES KAPITEL

Februar 1954

Ich habe noch nie verstanden, warum die Erwachsenen den Kindern einreden, es lohne sich, artig und gehorsam zu sein. Wäre ich eine gehorsame Tochter gewesen, stünde heute mein Name in den Grabstein gemeißelt – so wie die Namen von Mamas Eltern, Oma Elsa und Opa Ervin, die lange vor meiner Geburt verstorben waren, oder Oma Ludmila und Opa Mojmír, an deren Grab Mama und ich jedes Mal kleine braune Grablichter anzündeten, obwohl wir dafür bis ans Ende des Friedhofs gehen mussten.

Während meine Freundinnen an Sonntagnachmittagen bei schönem Wetter mit den Familien in den Park oder durch die Stadt spazieren gingen, steckte Mama Dagmara, Ota und mich in Sonntagskleider und schickte uns vor die Tür der Uhrmacherei, die früher uns gehörte. Zu dieser Zeit durfte Papa hier aber nur noch für miese Bezahlung arbeiten und Mama hatte die Erlaubnis, umsonst in dem dunklen Lädchen im Erdgeschoss den ausgetretenen Fußboden zu wischen.

Jeden Sonntag nach dem Mittagessen wusch Mama das Geschirr ab, setzte sich das schwarze Hütchen auf, setzte Otík in den Kinderwagen, oder nahm ihn, als er schon größer war, bei der Hand und führte uns in Richtung Friedhof. Der Weg schien mir endlos. Wir mussten an der Kirche vorbei zum Fluss, über die Brücke, durch die ganze Unterstadt, die aus einem mir unbekannten Grunde Krásno – Schönheit – hieß, uns am langen Schloss-park entlangschleppen, bis hinter die letzten Häuschen, durch das Friedhofstor treten und warten, bis Mama die Grabsteine abgefegt, die Blumen ordentlich in Vasen gestellt und Kerzen angezündet hatte. Während der Arbeit sprach sie mit den Toten und erzählte ihnen, was es in Meziříčí Neues gab, wer geboren worden war, wer gestorben, was man sich in der Stadt so erzählte, wie es den Nachbarn ging und was wir Kinder wieder angestellt hatten.

Ich traute mich nie, etwas zu sagen, seufzte nur schwer, damit Mama verstünde, wie sehr mir das Warten zuwider war, aber auch so sagte sie jedes Mal vorwurfsvoll zu mir: »Mach nicht so ein Gesicht, wären sie nicht gewesen, gäbe es dich nicht.«

Als auf den Grabsteinen neue Namen hinzukamen und der von Mama dabei war, dachte ich daran, wie sie jeden Sonntag an den Gräbern gestanden und mit ihren Nächsten gesprochen hatte. Es tröstete mich, dass sie jetzt mit denen zusammen war, die sie so sehr vermisst hatte.

Mein Name ist nur deshalb nicht unter den in Gold ausgeführten Inschriften auf den Grabsteinen, weil es sich manchmal lohnt, ungehorsam und frech zu sein. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, lesen Sie nicht weiter. Und geben zur Sicherheit dieses Buch nie Ihren Kindern in die Hand.

Der Winter dieses Jahres, als ich neun Jahre alt war und sich mein ganzes Leben komplett änderte, war herrlich weiß und frostig, aber im Februar schien er gar kein Ende mehr nehmen zu wollen. Erst in den letzten Februartagen wurde es wärmer, der Schnee begann zu tauen und das Eis zu brechen.

Der Fluss, der Meziříčí und Krásno teilte, zog sich stellenweise nur träge dahin, statt in Richtung der größeren Flüsse zu eilen, und weil der Schnee in den nahen Bergen nur langsam taute und der Fluss davon bis jetzt nur geringfügig schneller geworden und angestiegen war, schien er uns wie geschaffen dafür, ein Stück auf den losen Eisschollen zu schwimmen.

In diesem Februar des Jahres 1954, als das Böse schon in der Tiefe unter der Stadt lauerte, liefen wir jeden Tag nach der Schule geradewegs zum Fluss und warteten ungeduldig, ob das Eis schon nachgab und brach, und ob das Wasser so stark floss, dass wir auf die Schollen springen, ein paar Meter mitgleiten und das Abenteuer genießen könnten, das die Zwillinge Eda und Mirek Zedníček aus der Sechsten in den Pausen beschrieben. Die hatten vor ein paar Jahren schon einen strengen Winter erlebt und die Schollenfahrt selbst ausprobiert.

Nach ein paar Tagen riss das Eis endlich, die Mitte des Flusses wurde frei und die Schollen wanderten langsam stromabwärts. Unsere Zeit war gekommen, lang ersehnt und sorgfältig geplant.

Ich stand in der Küchentür, in der einen Hand die rote Bommelmütze, in der anderen die Handschuhe.

»Was fällt euch da bloß ein?«, wunderte sich Mama, als ich sie fragte, ob ich mit Jarmila rodeln gehen dürfe. In der Küche war es gemütlich warm und es roch gut, weil Mama Kuchen für ihre Geburtstagsfeier buk. »Der Schnee taut, der ist feucht, du wirst durch und durch nass werden.«

Ich streckte mich nach einem Stück Kuchen vom Blech, zuckte aber gleich zurück, weil es noch heiß war. »Ja eben. Was, wenn das die letzte Möglichkeit ist, ein bisschen zu rodeln?«

Mama sah mich misstrauisch an. »Mira, lass dir nicht einfallen, zum Fluss zu gehen.«

Daraus, dass Mama ahnte, was Jarmilka Stejskalová, die Zedníček-Jungen und ich planten, und mir streng verbot, zum Fluss zu gehen, schloss ich, dass auch sie zu Zeiten, in denen sie noch nicht erwachsen und übertrieben vorsichtig war, selbst Eisschollenfahrten unternommen hatte. Aber Dinge, die ich nicht tun durfte, um mich nicht zu verletzen, gab es so viele!

Ich durfte nicht auf den Dachboden gehen, um nicht über irgendwelchen Kram zu stolpern oder aus dem Fenster zu fallen. Ich durfte nicht in den Keller gehen, um nicht auf den Stufen abzurutschen. Ich durfte nicht hinaus in die Loggia, weil ich wegen ihrer baufälligen Konstruktion auf den gepflasterten Hof stürzen könnte. Kein Wunder, dass der Mensch das »Du darfst nicht« nicht ernst nimmt, wenn er das in jedem Satz hört.

»Natürlich nicht. Jarmilka und ich gehen nur auf den Hügel hinter Zedníčeks Garten«, sagte ich und stopfte mir ein heißes Stück Kuchen in die Tasche.

Mama war sehr schön, und wenn sie mich umarmte, wärmte sie wie ein Ofen und duftete wunderbar nach Vanillezucker. Aber in diesem Augenblick sahen mich ihre großen braunen Augen, die mir immer so traurig erschienen, dass ich mich fürchtete hineinzuschauen, so misstrauisch an, als könnten sie meine geheimsten Gedanken lesen.

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