Vor Scham und Kälte und diesem ganzen Schreck fing ich an zu heulen. In der Küchentür erschienen meine Geschwister, aber als sie die Prügel sahen, zogen sie sich lieber wieder zurück. Unten ging die Eingangstür auf, weil Papa unser Geschrei bis in die Uhrmacherei gehört hatte und nun angelaufen kam, um zu sehen, was los war.
»Du verflixte Lügnerin«, Mama war böse. Sie rubbelte mich mit dem Handtuch ab, dass die Haut schmerzte, und steckte mich ins Bett. »Mach schnell einen Tee«, rief sie Papa zu und warf mir das dicke Federbett über. »Willst du eine Lungenentzündung bekommen und sterben?«
Was war das für eine Frage? Warum sollte ich sterben wollen? »Ich war nicht am Fluss, ich bin in eine Pfütze gefallen. Ich kann wirklich nichts dafür«, schluchzte ich.
Mama stellte die Teetasse auf den Nachttisch, setzte mir eine Strickmütze auf den Kopf, steckte eine Wärmflasche zu den Füßen und schloss die Tür hinter sich. Ich kuschelte mich in das Federbett, versuchte die Wärmflasche zwischen die Fußsohlen zu pressen und weinte leise vor mich hin. Mir war kalt und es tat mir leid, dass Mama und Papa mit mir böse waren. Vielleicht hätte ich nicht lügen sollen, vielleicht hätte ich sagen sollen, dass mich jemand ins Wasser gestoßen hat, vielleicht …
Nach einer Weile floss angenehme Wärme durch meinen Körper und ich hörte im Halbschlaf, wie immer mal wieder die Tür aufging, ich fühlte eine Hand auf meiner Stirn und dachte, dass Mama vielleicht doch nicht ganz so böse war und ich dem Riemen vielleicht doch entgehe und sich alles durch Erbsenpüree zum Abendbrot einrenkt.
Papa hatte die seltsame Fähigkeit, völlig geräuschlos zu gehen, sodass es manchmal schien, als sei er nicht durch die Tür gekommen, sondern wie ein Geist durch die Wände und Fußböden. Die Tage verbrachte er im Erdgeschoss in der Uhrmacherwerkstatt, über seinen Arbeitstisch gebeugt reparierte er Uhrwerke. Vom unablässigen Sitzen hatte er einen krummen Rücken und ging leicht nach vorn gebeugt. Seine Haare waren dicht, aber fast grau, sodass er eher wie Mamas Vater statt Ehemann aussah.
Als ich klein war, so klein, dass ich noch nicht zur Schule ging und mein Bruder Otík sich unter Mamas Rock versteckte, ging mir die Frage im Kopf herum, wie meine schöne Mama so einen alten Mann heiraten konnte, also fragte ich.
»Sie musste mich nehmen«, sagte Papa, »schließlich sind meine Haare ihretwegen grau geworden.«
»Das stimmt«, sagte Mama und klopfte ihm auf die krumme Schulter. »Aber du bist froh darüber, stimmt’s? Wer würde dir sonst literweise Tee hinunter in die Werkstatt tragen? Weißt du, wie viele Stufen das sind?«
Achtzehn. Die enge Treppe hatte achtzehn Stufen, und seitdem der Laden nicht mehr unserer war, sondern staatlich, und die Maurer den Durchgang zwischen Treppenhaus und Laden zugemauert hatten, musste Mama mit jedem Becher Tee hinauslaufen auf die Straße und durch den Haupteingang hineingehen, was im Winter und im Regen besonders unangenehm war.
Im Laden zwischen den Uhren verbrachte Papa viel Zeit nicht nur an Arbeitstagen, wenn das Geschäft geöffnet war, sondern auch sonntags. Nach oben in unsere Wohnung im ersten Stock kam er nur zum Essen und Schlafen. Beim Mittagessen und beim Abendbrot erzählte er Mama von den Uhrwerken, die er gerade reparierte, und Mama hörte ihm zu, als ob er die wundersamsten Abenteuer berichtete. Mit uns Kindern redete er nicht viel, und wenn Mama weg musste und er auf uns aufpassen sollte, brachte ihn das ganz durcheinander. Sicher lag es nicht daran, dass er uns nicht gern gehabt hätte. Eher konnte er nicht mit Kindern umgehen und wartete, dass wir größer würden und seinen Erzählungen über die Uhrwerke mit dem gleichen Enthusiasmus lauschten wie Mama.
An dem Sonntag, als meine Welt sich in die falsche Richtung zu drehen begann, war Papa ganz mürrisch, trotzdem bemühte er sich, das nicht zu zeigen. Zuerst dachte ich, er sei böse wegen meines Eisbades, aber diesmal war ich daran unschuldig. Mama feierte ihren dreißigsten Geburtstag und Papa war nicht er selbst, weil die Feier seinen gewohnten Tagesablauf störte. Er konnte nicht in seine Werkstatt gehen, und in Ordnung bringen, was in Ordnung zu bringen ging. Er musste sich im Wohnzimmer an den festlich gedeckten Tisch setzen, mit seiner Frau, seinen drei Kindern und seiner Schwägerin Hana, zu der er die Beziehung einfach nicht in Ordnung bringen konnte, selbst wenn er gewollt hätte.
Der Grund war einfach – die Schwägerin war der personifizierte Vorwurf. Jedes Wort von ihr, jede Bewegung, jeder Blick zeigten ihm, wie sehr sie ihn verabscheute. Mit ihr an einem Tisch Zeit zu verbringen, war für Papa genauso eine Qual wie für mich.
Ich hatte Angst vor Tante Hana. Sie saß auf dem Stuhl wie ein schwarzer Nachtfalter und starrte nur. Nie zog sie etwas Farbiges an. Über dem schwarzen langärmligen Kleid trug sie winters wie sommers einen schwarzen Pullover mit Taschen, an den Beinen schwarze Strümpfe und knöchelhohe Schnürstiefel. Nie sah ich sie ohne Tuch, was ich eigentlich verstand, denn unter dem Tuch schauten weiße Haare hervor, auch wenn sie noch gar nicht alt sein konnte.
»Warum zieht sie nicht manchmal den Pullover aus?«, fragte ich Mama.
»Du hast gesehen, wie dünn sie ist«, sagte Mama. »Dünne Menschen frieren sehr leicht.«
»Wenn sie essen würde, wie es sich gehört, wäre sie nicht so dünn. Sie isst nur ein bisschen von dem Brot, das sie in ihren Taschen rumträgt, warum isst sie nichts Ordentliches?« Oder dürfen Erwachsene vielleicht überall krümeln, wo sie gehen und stehen, und Kinder nicht?
»Immer nur warum warum. Was geht dich das an? Sagt Tante Hana dir vielleicht, was du tun und lassen sollst?«
Und das war die reine Wahrheit. Tante Hana war die einzige Erwachsene, von der ich nie »Du darfst nicht« hörte. Eigentlich hörte ich auch nichts anderes von ihr, denn Tante Hana sprach fast nie, sie starrte nur. So seltsam. Als ob sie schauen würde, ohne zu sehen. Als ob sie weggegangen wäre und ihren Körper auf dem Stuhl vergessen hätte. Manchmal hatte ich Angst, dass sie zu Boden rutscht und nur noch ein Haufen schwarzer Sachen von ihr übrigbleibt.
Das hätte ich mir denken können, dass Mama Tante Hana verteidigt. Tante Hana war ihre ältere Schwester und eigentlich die einzige Verwandte, die wir hatten. Mama hatte sie schrecklich gern, was mich ziemlich verwunderte, denn Tante Hana zeigte nie, dass ihr an irgendjemandem von uns etwas liegen würde. Einmal sah ich, wie die Tante zu uns kam und Mama sie umarmen wollte, aber die Tante zuckte zurück, als ob sie sich an ihr verbrannt hätte. Mama lächelte sie immer an, sprach beruhigend mit ihr, wie mit einem kleinen Mädchen, und wenn die Tante darum gebeten hätte, hätte Mama ihr wohl auch das Blaue vom Himmel geholt. Aber die Tante bat weder sie noch sonst jemanden je um irgendwas. Sie saß einfach nur im Wohnzimmer, starrte vor sich ins Leere und gab manchmal eine kurze Antwort von sich, mit einer Stimme, die ganz und gar wie Mamas klang.
Wir setzten uns zum festlichen Mittagessen an den Tisch und ich erwartete so halb, dass auf meinem Teller anstelle des Lendenbratens das Erbsenpüree landete. Ich hatte zwar während der vormittäglichen Expeditionen in die Küche nicht entdecken können, dass die Mama Erbsen für mich kochte, aber aus ihrem reservierten Benehmen schloss ich, dass die Angelegenheit mit dem gestrigen Bad noch nicht ganz abgeschlossen war.
Ich bekam das gleiche Essen wie die anderen. Hatte Mama mich etwa aus Anlass ihres dreißigsten Geburtstags begnadigt?
Ich begann schon zu hoffen, aber dann kam die Zeit für das Dessert. Großartige, wundervolle Spritzkringel mit Eiercreme und glänzendem Zuckerguss, zu diesem besonderen und außergewöhnlichen Ereignis direkt in der Konditorei am Platz gekauft.
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