»Tante?«, rief ich in die halboffene Tür, aber es war nichts zu hören. »Tante. Ich bin das, Mira. Mama hat mich zu dir geschickt.« Ich überlegte, dass sie am Tisch sitzen könnte, wieder mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen, und nichts mitbekam. Ich ging also in den Flur, schaute in die Küche und schließlich ins Schlafzimmer.
Und dort fand ich sie. Sie lag angekleidet auf dem Bett, so, wie sie immer zu uns kam, auch das schwarze Kopftuch hatte sie umgebunden, obwohl es jetzt von ihren weißen Haaren auf die Schultern gerutscht war. Sie lag auf dem Rücken, seltsam durchgebogen, als ob ein schmerzhafter Krampf sie gepackt hätte, das Kinn war zurückgebeugt, die Augen offen und aus ihrem halboffenen Mund drang ein seltsames Röcheln.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich ging zwei Schritte vor. »Tante?« Aber da sah ich schon, dass sie dieselbe Gesichtsfarbe wie Dagmarka hatte. Ihre Augen waren trübe und sie zitterte – noch mehr als ich, als ich ins eiskalte Wasser gefallen war.
»Mama!«, schrie sie auf einmal. »Mama, ich … ich wusste, dass ihr zurückkommt.« Sie warf heftig den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie sind nicht hier, nicht hier.« Tränen flossen ihr aus den Augen. So viele Tränen hatte ich nicht einmal bei Otík gesehen, und der konnte wütend sein.
Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckte, die heftigen Fieberzuckungen, die schmerzhaften Krämpfe, die Schreie oder die Tränen. Ich lief durch die Wohnung, die Treppe hinunter und packte draußen den ersten Menschen, der mir begegnete, und hängte mich verzweifelt an seinen Ärmel. »Was soll ich machen? Was soll ich machen? Der Tante geht es furchtbar schlecht.« Und damit meine Bitte noch ernster klang, fügte ich hinzu: »Sie ist ohnmachtslos.«
Der Mann in dem langen Mantel stieß mich unsanft weg und trat ein Stück zurück. Zu der Zeit war schon klar, dass sich in der Stadt eine Seuche ausbreitete. In sicherer Entfernung blieb er stehen und fragte: »Wo ist sie?«
»Hier oben. Sie ist ganz allein da und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Komm mit«, sagte er und ging in die geöffnete Tür der Bäckerei. »Und fass nichts an.«
Drin war es warm und die Luft duftete nach Brot. Dieses Brot kaufte sich hier Tante Hana immer, schnitt dünne Scheibchen davon ab und trug sie in ihren Taschen herum.
Der Mann im langen Mantel beachtete die ärgerlichen Blicke der Käuferinnen in der Schlange nicht, ging geradewegs nach vorn und fragte die Verkäuferin: »Haben Sie hier ein Telefon?«
»Dienstlich«, entgegnete die Frau scharf. »Sie sind hier doch nicht auf der Post.«
»Rufen Sie den Rettungswagen«, sagte mein Helfer. »Die Kleine sagt Ihnen Namen und Adresse.«
Die Verkäuferin wollte etwas sagen, aber der Mann brüllte sie an: »Oder wollen Sie sich die Kranke zuerst selbst anschauen gehen?«
Die Leute in der Schlange gingen auf sicheren Abstand. Ich weiß nicht, ob sie sich mehr vor der Ansteckung oder vor dem verärgerten Mann fürchteten. Ich dachte, dass es vor allem großes Glück war, dass ich gerade seinen Ärmel gepackt hatte. Sicher rät er mir auch, wohin ich gehen soll, wo ich doch jetzt ganz allein war. Auf einmal fühlte ich mich sicherer.
Zwei Frauen verließen ihren Platz in der Schlange, gingen im Bogen um uns herum und eilten fort. Ich diktierte Tantes Namen und die Verkäuferin ging nach hinten ins Büro, um zu telefonieren. Mich schickten sie zum Warten vor Tantes Haus.
Der Rettungswagen kam schnell. Die vordere Tür ging auf und ein dicker Doktor krabbelte heraus. Er schaute zur Treppe, seufzte ergeben, ging schwankenden Schrittes zum Haus, blieb wieder stehen, atmete tief ein und verschwand leise fluchend im Haus. Die Tante wurde auf einer Trage herausgebracht. Ich wusste, dass sie noch lebte, denn das Betttuch, das sie ihr übergeworfen hatten, bebte. Die Trage luden sie ins Auto, der dicke Doktor kletterte schnaufend hinein, schlug die Tür hinter sich zu, der Rettungswagen heulte ein paar Mal leer auf und setzte sich holpernd in Bewegung.
Ich sah dem weißen Auto hinterher und wartete, dass der Mann in dem langen Mantel wieder auftauchte, damit ich ihn noch einmal um Rat bitten konnte. Aber er zeigte sich nicht mehr.
Gut zehn Minuten trampelte ich auf dem Bürgersteig von einem Fuß auf den anderen und langsam wurde mir ordentlich kalt. Ich begriff, dass mir niemand helfen würde, dass ich selbst jemanden finden musste, der sich meiner annimmt.
Die erste, die mir einfiel, war meine goldhaarige Freundin Jarmilka Stejskalová. Ihre genauso hellhaarige Mama war immer sehr nett zu mir. Bestimmt konnte ich ein paar Tage bei ihnen bleiben.
Wieder stand ich vor einer fremden Tür und griff hilfesuchend nach der Klinke. Diesmal wurde die Tür nach dem ersten Klingeln geöffnet, aber nur zu einem Spalt.
»Hallo Mira, Jarmilka kommt heute nicht raus.«
»Ich will nicht zu Jarmilka. Mama und Papa sind ins Krankenhaus gekommen und ich bin allein zurückgeblieben. Könnte ich nicht bei Ihnen bleiben, bis sie zurückkommen?«
Der Spalt in der Tür wurde noch enger. »Jetzt passt das gerade nicht. Wir sind alle irgendwie erkältet. Du könntest das auch bekommen.«
»Wohin soll ich gehen?«, fragte ich, aber die Tür war schon geschlossen.
Ich sah mich auf der Straße um. In den Fenstern gingen langsam die Lichter an und hinter Gardinen und Vorhängen tauchte manchmal eine Gestalt auf, aber weit und breit gab es niemanden, den ich kannte. Ich machte mich langsam nach Hause auf, aber bei der Erinnerung an die Geräusche vom Dachboden, die sich wie Schritte anhörten, wurde ich immer langsamer. Ich kam am Schaufenster der Uhrmacherei vorbei, finster wegen der fortgeschrittenen Stunde, hielt vor der Eingangstür an und wartete, ob etwas passierte. Es passierte gar nichts, nur auf der Straße war immer weniger zu sehen und ich spürte jetzt neben der Kälte auch noch Angst vor der Nacht.
Ich schließe wenigstens ab, sagte ich mir. Und dann bleibt mir nichts übrig, als bei den Nachbarn zu klopfen und um Rat zu fragen. Ich gehe von Haus zu Haus, irgendjemand wird mir bestimmt helfen.
Ich hatte einen Plan und das machte mir Mut. Ich war mir sicher, dass ich nicht hineingehen musste, denn wir ließen den Schlüssel gewöhnlich im Schloss stecken. Es müsste reichen, auf die andere Seite der Tür zu greifen, ihn schnell herauszuziehen, die Tür wieder zuzuschlagen und abzuschließen. Ich tastete die Türinnenseite ab, nur war der Schlüssel nicht da. Wie konnte das sein? Ich war überzeugt, dass ich ihn da gesehen hatte. Er musste also an der Garderobe ein paar Schritte von der Tür hängen.
Ich schaute in den dunklen Gang. Ich hatte Angst, Licht zu machen, um nicht die Aufmerksamkeit des Eindringlings zu wecken, dessen Anwesenheit ich nur ahnte. Von der dämmrigen Straße hinter mir drang schwaches Licht herein und mein Schatten war auf einmal so lang, dass er bis zum schmalen Treppenhaus reichte und mit jedem meiner Schritte die Treppe hochkletterte. Die Garderobe war im Dunkeln kaum zu sehen. Hätte ich nicht gewusst, dass da Papas Wintermantel hing, hätte ich gedacht, dass sich eine schwarze Gestalt an die Wand presst. Was, wenn da wirklich jemand ist?
Ich blieb stehen und versuchte, in der Dunkelheit den Schlüssel auszumachen. Auf einmal hörte ich Schritte, sie kamen näher und näher und zu meinem Schatten auf der Treppe gesellte sich ein weiterer. Ich versuchte gar nicht zu erkennen, woher er kam, ich drehte mich um und wollte aus der Tür laufen. Die Schritte kamen aber nicht von oben, wie ich dachte. Sie kamen von einer Gestalt, die mir den Weg nach draußen versperrte. Ich versuchte, an ihr vorbeizuhuschen, aber sie packte mich an der Schulter. »Mira! Hast du mir einen Schreck eingejagt.«
März 1954
Einmal fragte ich Mama, warum sie keine richtige Freundin habe. Sie wunderte sich, wie ich überhaupt darauf kommen konnte, und sagte dann, die Freundschaft von Erwachsenen sei ganz anders.
Читать дальше