Jarmilka wartet schon«, sagte ich, knöpfte den Mantel zu, schnürte die warmen Knöchelschuhe und zog mir die Mütze bis in die Stirn.
Mama gab mir noch ein Kuchenstück. »Hier, für Jarmilka.«
Ich lief hinaus, packte Jarmilkas Schlitten am Seil und ging los in Richtung Marktplatz. Im Rücken brannte mir Mamas Blick.
»Auf Wiedersehen, Frau Karásková«, rief Jarmilka, »und danke schön.« Sie warf ihren langen blonden Zopf herum, um den ich sie ganz unfreundschaftlich beneidete, weil alle Jungen aus der Klasse sie bewundernd daran zogen, lächelte Mama unschuldig an und biss in den Kuchen.
Am Ende der Straße bogen wir nach links ab.
»Wo gehst du hin?«, fragte Jarmilka und zog am Seil, um mich zu stoppen. »Wir wollen doch nicht um die ganze Stadt herumlaufen.«
»Ich möchte nicht, dass Mama sieht, dass ich zum Fluss gehe.«
»Sie kann doch nicht um die Ecke gucken.«
Ich sah mich auf der Straße um. Im ersten Stock eines Hauses mit abgeblätterter Farbe bewegte sich die Gardine. Vielleicht schien es mir nur so, aber vielleicht hielt die alte Beneška am Fenster Wacht, um alles mitzubekommen, was sich um den Platz herum tat. Ich ging schneller. »Man kann nie wissen. Wenn wir jemanden treffen, gibt es Ärger.«
»Und zum Abendbrot bekommst du Erbsen«, lachte Jarmilka und trippelte ergeben hinter mir her.
Erbsen konnte ich wirklich nicht ausstehen und Mama wusste das, also bekam ich sie zum Mittag oder zum Abendbrot, wenn ich Widerworte gab oder etwas getan hatte, was ich nach Meinung der Eltern nicht hätte tun sollen. Ich saß mit den anderen am Tisch, schaute zu, wie sie sich ihre Kartoffelpuffer mit selbstgemachter Marmelade oder etwas anderes Gutes schmecken ließen, und aß von dem grünen Püree. Im Stillen zog ich ein Gesicht, laut sagte ich: »Immer noch besser, als wenn Papa seinen Gürtel abschnallt.« Was ich manchmal, öfter als meine beiden kleineren Geschwister, nicht vermeiden konnte. Und heute würde es für den Gürtel reichen. Daran hatte ich keinen Zweifel.
Die braunen Schuhe waren durchnass, noch bevor wir am Fluss angekommen waren, und meine Finger froren trotz der Handschuhe. Die Zedníček-Jungen warteten schon am Ufer unterhalb der weiß geputzten Kapelle mit dem Holzschindeldach auf uns. Sie liefen in dem matschigen Schnee herum und versuchten mit langen Stangen die Schollen abzustoßen, die am Ufer aufgeschwemmt waren. Sowie sich eine Scholle löste, erfasste die Strömung sie und trieb sie erst langsam, dann immer schneller zum fünfzig Meter entfernten niedrigen Wehr, wo die Scholle in dem angehäuften gesplitterten Eis steckenblieb.
In diesem Moment verließ mich der Mut, und Jarmilka wohl auch, denn sie setzte sich auf den Schlitten und sagte: »Ich schau nur zu.«
»Feigling«, sagte Eda Zedníček verächtlich, und ich begriff, dass ich zwar nicht an Schönheit, so doch mit Mut Jarmilka übertreffen könnte. Die Jungen ziehen sie vielleicht am Zopf, aber auf mich werden sie noch nach Jahren zeigen und dabei den jüngeren Mitschülern erzählen: »Das ist die, die auf der Eisscholle den Fluss langgefahren ist.«
Ich schaute zu, wie Eda geschickt ein weiteres Eisstück ablöste, so groß wie der gewebte Läufer vor Mamas und Papas Bett, direkt in die Mitte trat, sich mit der Stange vom Grund abstieß und langsam mit der Strömung in Richtung Wehr glitt. Wir liefen am Ufer entlang, während Eda breitbeinig auf der Scholle stehend sein provisorisches Wasserfahrzeug mit einem Knüppel in ruhigen Wassern hielt, in den Boden stakte und in sicherer Entfernung vom Ufer zum Wehr steuerte. Mit dem Knüppel schwächte er den Aufprall ab und lief über das angehäufte Eis zum Ufer zurück.
Einfach, dachte ich mir. Bis auf das Klettern von Scholle zu Scholle.
Auf dem Rückweg zum Schlitten bekam ich eine Reihe wohlgemeinter Ratschläge, die mir wieder den Schneid abkauften. »Vor allem musst du dich in die Mitte der Scholle stellen, damit du nicht ins Wasser rutschst. Und halt dich ans Ufer, da ist es flach. In der Mitte ist die Strömung, die könnte dich wegreißen, das könnte nicht mal ich schaffen. Und mit der Stange musst du dich von der Seite aus abstoßen, nicht nach vorne stechen, da würdest du drüberfallen.«
Die Beine zitterten mir jetzt nicht mehr nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Eda und Mirek halfen mir, eine Scholle zu lösen. »Spring rauf!«, rief Eda und ich sprang, nur war das Eis in der Zwischenzeit ein Stück weitergeschwommen, den Strom hinab, sodass ich auf dem Rand aufkam, das Eis hochhüpfte, und ich ausrutschte.
Im Flug warf ich die Arme hoch und ich fühlte, wie ich auf dem Wasser aufkam und hineinsank und das Wasser mir zuerst gar nicht kalt vorkam. Aber dann packte es mich wie eine riesige Zange, floss mir in die Ohren, die Augen, die Nase, drückte mich hinunter und irgendwohin in die Dunkelheit. Bevor ich einen Schreck bekommen konnte, schnappte mich eine Hand am Mantelaufschlag und hob mich aus dem Wasser.
»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht auf den Rand treten!«, rief Eda, drehte sich dann zu Mirek um und fügte voller Verachtung hinzu: »Das war deine blöde Idee, die Mädchen hierher mitzuschleppen. Jetzt haben wir den Schlamassel.«
Jarmilka stand am Ufer und jammerte. Schnell schälte ich mich aus dem schweren Mantel, der sich mit Wasser vollgesogen hatte, und fing an ihn auszuwringen. So konnte ich nicht nach Hause, aber mir war schrecklich kalt. Mir fiel ein, wir könnten ein Feuer machen und ich könnte daran meine Sachen ein bisschen trocknen und mich wärmen, und ich wollte die Jungen um Streichhölzer bitte, aber meine Zähne klapperten so, dass ich nicht sprechen konnte.
»Heul hier nicht rum, leih ihr deinen Mantel und bring sie nach Hause!«, schrie Eda Jarmilka an. Lustlos knöpfte sie den Wintermantel auf und warf ihn mir über die Schultern. Das half nicht sehr. Vielmehr zitterten wir jetzt beide.
»Wenn ihr jemandem petzt, dass wir zusammen hier waren, verklopp ich euch, obwohl ihr Mädchen seid«, fuhr Eda fort. »Und jetzt ab nach Hause mit euch«, er nickte Mirek zu und beide liefen los, den Abhang hinauf.
Ich warf den nassen Mantel auf den Schlitten und wir machten uns auf kürzestem Wege auf nach Hause. Die Kälte biss sich in meine Haut und trieb mich zu größerer Eile an. Zwei Straßen vor unserem Haus gab ich Jarmilka den feucht gewordenen Mantel zurück, die zog ihn mit sichtlicher Freude wieder an, schenkte mir einen mitleidsvollen Blick und überließ mich meinem Schicksal. Ich hoffte immer noch, dass ich es mit ein bisschen Glück die Treppe hoch schaffte, ohne bemerkt zu werden, schaffte, an der Küche vorbeizuschleichen, in die zweite Etage hochzulaufen, wo ich mit meinen Geschwistern schlief, und mir heimlich etwas Trockenes anzuziehen.
Vorher hatte ich nie bemerkt, dass die schwere Eingangstür geschmiert werden musste, die Treppe knarrte, und wenn kein Licht war, das ich natürlich nicht anmachen konnte, die nächste Treppenstufe nicht zu sehen war.
»Ist das Licht kaputt?«, erklang von oben eine Stimme, dann flackerte die Glühbirne auf und ich blieb mitten auf der Treppe stehen. Als ich mich umschaute, wurde mir klar, dass ich sowieso nicht unentdeckt geblieben wäre. Ich hatte auf jeder Treppenstufe eine kleine Pfütze hinterlassen.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Mama, schnappte mich, zog mich die Treppe hinauf, und fing dort an, mir die nassen Sachen herunterzureißen. »Was hast du denn jetzt wieder angestellt? Ich habe doch gesagt, dass du nicht an den Fluss darfst.«
Mit einer Hand zog sie mir die nasse Strumpfhose herunter, mit der anderen schlug sie auf meinen eiskalten Po ein. Das überraschte mich. Das war das erste Mal, dass ich von Mama etwas abbekam. Die Schläge taten nicht weh, waren aber fürchterlich erniedrigend.
»Nein!«, schrie ich. »Das ist nicht wahr! Ich war nicht am Fluss. Ich war mit Jarmilka rodeln. Der Schnee ist nur noch Matsch. Deswegen bin ich auch ganz nass.«
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