Der Traum endete jedes Mal gleich. Die Tür ging auf, Papa kam herein und ich sagte: »Auf dem Platz haben sie gemeldet, dass ihr gestorben seid.« Und sie schauten mich an und lachten. »Das hast du nur geträumt, du siehst doch, dass wir hier sind«, und ich war glücklich. Nur wachte ich dann auf und es war, als ob sie noch einmal stürben. Jeden Morgen erlebte ich den Kummer wieder und wieder, und schließlich hatte ich abends Angst, schlafen zu gehen, um meine Familie nicht wieder zu verlieren.
Die Horáčeks waren sehr freundlich zu mir. Tante Ivanas Mann Jarek sagte sogar, ich könne bei ihnen bleiben, solange es nötig war, aber das machte mich noch wehmütiger, denn ich wollte nach Hause gehen. In mein altes Leben zurückkehren.
Die Typhusepidemie ließ langsam nach. Die Hygienemaßnahmen waren nicht mehr so streng, die ersten Auskurierten kehrten aus den Krankenhäusern zurück, Herr Horáček – eigentlich zu der Zeit schon Onkel Jarek – konnte wieder zur Arbeit gehen, Tante Ivana ging wieder zum Kochen in die Schulküche und ich in die Schule.
In der Klasse war alles genauso, und doch anders. Ich setzte mich in meine Bank neben Jarmilka Stejskalová, schaute auf die Tafel, aber ich sah nicht, was dort geschrieben stand, ich schrieb Zahlen in mein Heft, begriff aber nicht, was sie bedeuteten. Ich fühlte die mitleidigen Blicke der Mitschüler auf mir und hasste sie, weil sie nach dem Unterricht nach Hause gehen konnten, zu ihren Mamas, Papas und Geschwistern, aber ich kein Zuhause mehr hatte. Nicht einmal Jarmilka wusste, was sie sagen sollte, und so bot sie mir in der großen Pause wenigstens an, dass ich von ihrem Brot kosten sollte. Ich schüttelte nur den Kopf und schaute weiter vor mich hin.
Während der nächsten Tage kehrte das Leben der meisten Einwohner der Stadt wieder in die alten Bahnen zurück und die Kranken und Toten wurden nur mehr zu Zahlen in den Statistiken der Hygienestation. Insgesamt waren fast 500 Menschen erkrankt und mehr als zwanzig von ihnen waren gestorben.
Von Tante Hana hatte ich keine Nachrichten und ich forschte auch nicht nach. Mamas Schwester Hana Helerová war ein fremder Mensch für mich. Weiter entfernt als Tante Ivana, bei der ich zwar erst ein paar Wochen wohnte, aber sie brachte mir in der Zeit mehr Gefühl entgegen als Tante Hana im ganzen Leben.
Ich wusste nicht einmal, ob Hana lebte. Ich verstand, dass »Zustand sehr kritisch« eine Vorstufe des Todes war. Ohne darüber extra nachzudenken, nahm ich an, dass sie genauso aus meinem Leben gegangen war wie die Eltern und Geschwister, und die Horáčeks das verschwiegen, um meine Einsamkeit nicht noch zu verstärken.
Tante Ivana dachte sich, man müsse mich irgendwie beschäftigen, damit ich keine Zeit zum Nachdenken hatte, und versuchte mich am häuslichen Leben zu beteiligen. Es schien zu wirken. Ich fühlte zwar immer die Trauer, aber Angst und Schrecken, die mich in den ersten Tagen nach der Beerdigung kaum atmen ließen, verloren sich langsam. Ich begann mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich bei den Horáčeks blieb.
Nach einiger Zeit beschlossen die Horáčeks, dass die Gefahr vorbei und es an der Zeit war, dass ihre Kinder wieder von den Großeltern zurück nach Hause zogen. Tante Ivana machte sich freudig an die Vorbereitungen und bezog mich in das Bettenbeziehen und die große Wäsche ein.
»In ein paar Tagen kommen Ida und Gustav von der Oma zurück, dann wirst du Freunde haben«, versprach sie mir beim Einsprengen der Bett- und Kissenbezüge. Wir machten die Finger in Wassertöpfchen nass und schüttelten dann die Tropfen so gleichmäßig wie möglich auf die gestärkte Wäsche. Die Tante konnte das, aber bei mir bildeten sich nur große Pfützen.
»Iduška wollte immer ein Schwesterchen, sie wird sich freuen, dass sie jemandem zum Spielen hat. Und Gustík ist ein feiner Junge. Du wirst sehen, ihr werdet euch verstehen.« Sie lachte zufrieden und reichte mir eine Seite des besprengten Lakens, damit ich half, es vor dem Mangeln auseinanderzuziehen. Wir packten die Ecken und zogen daran. »Sie werden dich so mögen, als ob du eine von uns wärst«, lächelte Tante Ivana und griff nach dem nächsten Wäschestück.
Nun ja, da hatte sie sich ordentlich getäuscht.
Ich kannte weder Ida noch Gustav, weil die Horáčeks am Stadtrand wohnten, wo kleine zweistöckige Villen mit schönen Gärten und hochgewachsenen Obstbäumen standen. Mama war bei schönem Wetter oft mit uns hierher spaziert und sagte immer, sie würde gern später in so einem Häuschen mit Garten wohnen. Manchmal blieb sie stehen und schaute eins der Häuschen aufmerksam an, als ob sie wirklich plante, es zu kaufen, und sagte: »Hier würde ich ein Gewächshaus hinstellen.« Oder: »Die Bäume müssten beschnitten werden.«
Dagmarka und ich liefen voraus, damit wir den Pflichtspaziergang bald hinter uns brachten und uns angenehmeren Dingen widmen konnten, und Papa – wenn er beim Familienspaziergang dabei war – stützte sich auf den Kinderwagen, in dem Otík saß, und sagte: »Aber Rosi, wir wohnen doch auch sehr schön.« Und Mama antwortete jedes Mal. »Das ja, aber so ein Gärtchen, das hätte ich später gern.«
Den Horáčeks gehörte das Haus nicht, die Wohnung im ersten Stock hatten sie von der Armee zugeteilt bekommen, weil Onkel Jarek Berufssoldat war und in der hiesigen Kaserne diente.
Das Häuschen sah von weitem wie ein Dampfer aus, den eine große Welle ans Ufer geworfen hatte. Auf einer Seite war es ganz gewöhnlich eckig, aber auf der anderen war eine Ecke abgerundet, als ob der Baumeister ursprünglich ein Türmchen erschaffen wollte, es sich dann aber anders überlegte. Das Dach war flach und die Wände waren weiß verputzt. Von der Straße aus gesehen strahlten sie, bei näherer Betrachtung war zu erkennen, dass der Putz schon schmutzig war, grau und stellenweise locker wurde. Die Fenster bestanden aus quadratischen Glasscheiben und sahen wie vergittert aus. Aus dem Erdgeschoss führte eine große Glastür in den Garten. Niemand ging je da hinaus und von innen war sie mit undurchsichtigen Vorhängen verdeckt, sodass sie traurig überflüssig wirkte.
Unten wohnte ein merkwürdiges altes Ehepaar. Der Mann ging kaum vor die Tür, weil er nicht mehr vom Sessel hochkam, und seine Frau ging nur zum Einkaufen und am Sonntag in die Kirche. Mir kreiste im Kopf herum, warum sie dorthin ging, wenn sie doch ganz taub war, und deshalb fragte ich Tante Ivana danach.
»Wie kommst du darauf, dass Frau Prášilová nichts hört?«
»Sie hat noch nie auf meinen Gruß geantwortet. Und auf Ihren auch nicht.«
»Aber nicht, weil sie taub wäre. Sie mag uns nicht, deshalb spricht sie nicht mit uns.«
»Warum mag sie uns nicht?«
An Tante Ivanas Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie keine große Lust hatte zu antworten, aber schließlich sagte sie: »Dieses Haus gehörte den Prášils, und nach dem Umbruch ließ man ihnen nur das Erdgeschoss. Den ersten Stock beschlagnahmte die Armee und teilte ihn uns zu. Und die Prášils wollen nicht begreifen, dass wir nichts dafürkönnen. Dass, wenn wir nicht hier wohnen, jemand anderes hier wohnt.«
Das gefiel mir an Tante Ivana – sie antwortete auf meine Fragen. Wenn ich Mama etwas fragte – zum Beispiel nach Großmutter und Großvater oder ob Tante Hana schon immer so komisch war – speiste sie mich ab: »Wer viel fragt, wird schnell alt.« Oder mit irgendeiner anderen erwachsenen Weisheit, und so fragte ich lieber nichts.
Unter anderen Umständen hätte ich das Entgegenkommen der Tante ausgenutzt und sie ordentlich ausgefragt, aber bei der Erinnerung an meine Mama verflüchtigten sich die Fragen aus meinem Kopf.
Obwohl Ida nur zwei Monate jünger als ich war, war sie gut einen halben Kopf kleiner. Auf den ersten Blick sah sie wie eine Porzellanpuppe aus. Sie hatte fast durchsichtige Haut, ein hübsch geschürztes Mündchen und die Haare waren zu zwei schicken Zöpfen geflochten. Sie ging leise, sah so ordentlich und perfekt aus und mir war gleich klar, dass wir beide uns nicht verstehen würden, selbst wenn der Blick aus ihren blauen Augen, genauso blauen Augen wie sie Tante Ivana hatte, nicht so eisig wäre.
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