Auf der Straße vor dem Haus ließ mich Tante Hana los und wurde langsamer. Der kurze Ausbruch hatte sie erschöpft, und so drosselte sie das Tempo und ging mit gleichmäßigen, vom Schmerz gezeichneten Schritten durch die Stadt zum Haus am Marktplatz. Ich ging gehorsam neben ihr. Blieb mir denn etwas anderes übrig? Ich traute mich nicht zu sagen, dass alle meine Sachen bei den Horáčeks waren – alles, von Zahnbürste und Schlafanzug bis zum Schulranzen. Auf dem ganzen Weg fiel kein Wort. Damals dachte ich, Tante Hana sei böse, aber heute weiß ich, dass sie genauso verstört war wie ich. Sie schaffte es nicht, sich um sich selbst zu kümmern, und hatte sich gerade ein kleines Mädchen aufgehalst.
Wir waren ein seltsames Paar. Eine müde Frau in einem schwarzen, ausgeleierten Pullover, langem Rock, Schnürschuhen und in die Stirn gezogenem Kopftuch führte eine verheulte, zerzauste Neunjährige in einer dünnen Kittelschürze und Hauspantoffeln durch die Stadt. Bevor wir am Haus ankamen, zitterte ich vor Kälte.
Im ersten Stock des Hauses auf dem Platz setzte sich Tante Hana an den Küchentisch und ich öffnete schnell alle Fenster, obwohl ich ganz durchgefroren war, um die dicke Luft hinauszulassen, von der mir schlecht wurde.
»Ich habe weder Zahnbürste noch Schlafanzug«, sagte ich zu Hanas Rücken.
Sie bewegte sich nicht.
»Ich muss morgen in die Schule, aber mein Ranzen ist bei den Horáčeks«, fuhr ich fort.
Tante Hana griff in die Tasche und legte eine Brotscheibe auf den Tisch. Auch von weitem sah ich, dass schwarze Wollfussel daran waren. Ich drehte mich zum Fenster, um das ich Tante Hana immer beneidet hatte, wickelte mir den Sofaüberwurf um, setzte mich aufs Fensterbrett und schaute auf die Leute, die über den Platz gingen.
Am Morgen weckte mich Kälte. Ich lag in der Küche auf der Ottomane und die Federn drückten in meine Rippen. Ich hatte dieselbe Schürze an, mit der ich gekommen war, und zugedeckt war ich nur mit dem gehäkelten Überwurf, in den ich mich vor dem Einschlafen gewickelt hatte. Die Fenster waren noch immer geöffnet, und so zog die kalte Morgenluft herein und strich über meine Haut. Ich kroch heraus, schloss die Fenster und rollte mich wieder auf dem Sofa zusammen, um wenigstens ein bisschen warm zu werden. Die Küchenuhr war vor Monaten stehengeblieben, aber nach den Geräuschen, die vom Platz hereindrangen, urteilte ich, dass ich aufstehen und zur Schule gehen sollte. Das war wohl das erste Mal im Leben, dass ich sehr gern hingegangen wäre.
Die Kirchturmuhr schlug und ich zählte sieben Schläge. Mir schien, als hörte ich aus dem Nebenzimmer Geraschel, und nach einer Weile öffnete sich die Tür und Tante Hana tauchte auf.
Bei meinem Anblick stockte sie, als hätte sie vergessen, dass ich da war, und starrte mich genauso an wie ich sie. Ich konnte den Blick nicht von ihr reißen, denn ich sah sie zum ersten Mal in einer anderen Farbe als schwarz. Sie hatte ein langes weißes Leinenhemd an und darin sah sie noch dünner und erbärmlicher aus als in ihrem schwarzen Pullover. Die weißen Haare waren zu einem Zopf gebunden und das Einzige, was an ihr schwarz war, waren die Augen. Am Vorabend musste sie sich gewaschen haben, denn sie roch nicht mehr so schrecklich, aber das weiß ich nicht genau, weil ich Angst hatte, tief einzuatmen.
»Du musst zur Schule«, sagte sie.
Von einer so verwirrten Person war das eine überraschend richtige Überlegung.
»So kann ich nicht zur Schule gehen«, schniefte ich, weil mir das in dem Moment ehrlich leidtat. »Ich habe weder Schuhe noch meinen Ranzen.«
Tante Hana machte Feuer im Herd und setzte Teewasser auf. Sie nahm eine Tasse aus der Anrichte und schaute sie konzentriert an. »Am Nachmittag holst du deine Sachen.«
Ich begriff, dass sie nicht die Tasse zu den Horáčeks schickte, sondern mich, und ich sah mich schon den schweren Holzkoffer durch die Stadt schleppen und den Ranzen, aber ich wagte nicht, etwas einzuwenden. In den Häkelüberwurf gewickelt siedelte ich zum Küchentisch über.
Tante Hana schob mir den Korb mit dem altbackenen Brot hin. »Es ist Montag, ich gehe heute einkaufen.«
Das Brot war zwar alt, aber wenigstens nicht in der Tasche zerdrückt und es waren keine Fussel daran und ich hatte seit dem sonntäglichen Mittagessen nichts gegessen, also protestierte ich nicht. Tante Hana zog sich um, goss dann Tee ein und setzte sich mir gegenüber. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen, wie sie das Brot brach, die Rinde in die Tasse tauchte und dann in den Mund stopfte. So wird also jeder Morgen aussehen, dachte ich mir, als Tante Hana die Krümel in die Handfläche sammelte und sie zum Mund hob.
Während des Frühstücks fiel kein Wort. Die Tante war mit dem Essen fertig, saß aber weiter da und starrte mit ihrem seltsamen Blick durch mich hindurch. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also brachte ich die leere Tasse zur Spüle und rollte mich wieder auf dem Sofa zusammen. Auf einmal stand die Tante auf, goss Wasser in die Schüssel und begann abzuwaschen. Es war nicht viel Geschirr, aber sicher lag es schon ziemlich lange in der Schüssel. Ich schlurfte zu ihr hin und nahm das Geschirrtuch in die Hand. Überrascht sah sie mich an, sagte aber nichts. Dann wischte sie den Tisch ab, fegte den Boden und verschwand im Schlafzimmer.
Absichtlich trocknete ich das Geschirr sehr langsam ab, um beschäftigt zu sein, aber trotzdem war ich lange, bevor die Tante zurückkam, fertig. Sie sah mich nicht an, nahm den Beutel vom Haken und ging zur Tür. Sie streckte sich nach der Klinke aus und erinnerte sich wohl in diesem Moment, dass sie nicht allein war.
Sie drehte sich wieder um und sah mich so seltsam an. »Dann kaufe ich Kartoffeln«, teilte sie mit, als ob ihrer Entscheidung eine besonders lange Debatte vorausgegangen wäre, und öffnete die Tür. Da stand ein großer Koffer und darauf lag mein schwarzer Ranzen. Ich war erleichtert, dass ich nicht die schweren Sachen durch die ganze Stadt schleppen musste, aber zugleich wurde mir klar, dass mein Umzug zu Tante Hana jetzt unumstößlich war. Die Horáčeks hatten meinen Koffer gepackt und bis vor Tante Hanas Tür gebracht, um mich und Hana nicht mehr sehen zu müssen.
»Ich habe Tante Ivana nicht einmal gedankt.« Ich glitt an Hana vorbei und zog den Koffer hinein. Damit hatte ich zu tun, ganz von den Horáčeks hätte ich ihn sicher nicht herschleppen können.
Tante Hana sagte nichts. Sie schnaubte nur abschätzig und schloss die Tür hinter sich.
Ich zog die Sachen aus dem Koffer und dachte nach, wohin ich meine Wäsche, Strumpfhosen, Blusen und Kleider legen konnte. Und ob ich einen Platz für die wenigen Spielzeuge und Bücher fand, die mir Tante Ivana erlaubt hatte, aus unserem Haus mitzunehmen. Ein Großteil meiner Sachen und die ganze Winterkleidung waren in unserem alten Haus geblieben, weil – wie Tante Ivana sagte – die Wohnung der Horáčeks nicht aufblasbar war.
Ich nutzte die Abwesenheit der Tante und schaute in alle Schubladen und Schränkchen in der Küche, untersuchte das Schlafzimmer der Tante, die Speisekammer, und war überrascht, wie wenig Dinge Tante Hana hatte. In der Anrichte waren zwei Töpfe, ein paar Teller und Tassen. Die Schubladen waren bis auf eine leer und im Kleiderschrank hingen ein Mantel und ein paar Pullover – schwarz, natürlich. Und im Nachttisch lag eine dünne Brotscheibe. In der Speisekammer standen Leinensäckchen mit Graupen, Mehl und Erbsen. Zur Sicherheit schob ich die Erbsen ganz nach hinten und ging aus der Küche in den Flur, um festzustellen, was sich hinter der Holztür verbarg.
In dem dunklen Flur waren vier Türen. Die gegenüber dem Haupteingang wurde nie verschlossen und führte direkt in die große Küche. Aber gegenüber der Badtür auf der linken Seite war eine geheimnisvolle, weiß gestrichene Tür, über die ich aus den seltenen Besuchen bei Tante Hana nur erfahren hatte, dass dahinter früher das Zimmer der Großmutter war. Nur Großmutters Zimmer, weil ihr Ehemann, mein Großvater Ervin, gestorben war, als Mama und die Tante noch ganz klein waren. Mir war nicht klar, warum ich nicht hineinschauen konnte. Oma Elsa konnte das doch nicht stören, da sie tot war, aber Mama klopfte immer warnend auf meine Schulter und sagte, wir wollen Tante Hana nicht an die Oma erinnern, damit sie nicht traurig wird. Als ob Tante Hana je fröhlich gewesen wäre.
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