Etwa zwei bis drei Wochen später brachte Suuus mir etwas in mein Büro. Ganz beiläufig meinte sie: »Ach, übrigens: Letzten Donnerstag bist du erst um fünf vor eins von deiner Mittagspause zurückgekommen, ich hab dir da eine Viertelstunde abgezogen.« Okay. Da ich regelmäßig übers Jahr ein (pauschal abgegoltenes) Stundenplus von etwa 180 bis 200 Stunden anhäufte, interessierte mich die Viertelstunde nicht wirklich. Aber ich war mir sicher, dass ich nie und nimmer erst zehn Minuten nach dem Schlag der Pausenglocke in der Firma eingerückt sein konnte, da war ich immer sehr pedantisch. Ich begab mich also ins Lohnbüro, in dem auch die Buchhaltung untergebracht war. Dort informierte ich Suuus, dass mir zwar diese Viertelstunde komplett egal sei, zumal ich dafür ja ohnehin nichts bekam, ich ließe mir aber nicht nachsagen, dass ich die Mittagspause mit zehnminütiger Verspätung beenden würde. Wie aus einem Munde beteuerten Adele und Suuus, dass sie beide gerade zufällig um 12 Uhr 55 zeitgleich aus dem Fenster gesehen hätten und beide bestätigen könnten, dass es exakt fünf vor eins gewesen sei, als ich über den Hof gehuscht war. Das kam mir nun sehr verdächtig vor. Ich glaubte, die Urheberschaft dieser angeblichen Verspätung zu kennen. Im Empfangsbüro der Firma stand ein Videorekorder, der die Bilder von vier verschiedenen Überwachungskameras aufzeichnete. In einer der darauffolgenden Mittagspausen bat ich die Kollegin aus der Rezeption, ob sie das Band für mich auf die besagte Mittagspause zurückspulen könne. Und siehe da – ich sah mich über den Hof flitzen, just nachdem die anderen Kollegen sich von ihren sonnigen Plätzen erhoben und sich an ihre Arbeitsplätze begeben hatten. Also wohl zu spät, aber nur etwa 30 bis 40 Sekunden nach dem Signal der Glocke. Was nun? Die Damen hatten mich doch eindeutig verleumdet, das bewies das Video. Wie würde die Firmenleitung darauf reagieren, dass zwei Kolleginnen in vollem Bewusstsein unisono gelogen hatten? Also berichtete ich dies der Chefin. Ihre Entrüstung darüber hielt sich sehr in Grenzen. Es schien fast, als hätte sie von der Sache gewusst. »Ja, und was wollen Sie jetzt?« Eigentlich wollte ich gar nichts, außer eben beweisen, dass man etwas früher aufstehen muss, um mir Dinge anzudichten, deren Gegenteil so leicht zu beweisen ist. Ich wies also nur darauf hin, dass die Chefin zur Kenntnis nehmen möge, dass Adele und Suuus jederzeit lügen würden, um mich zu belasten. Sollte daher in einer schwerwiegenderen Angelegenheit einmal die Aussage der Damen gegen die meinige stehen, so möge dies bitte berücksichtigt werden.
Wirklich gedankt hat man Adele ihre Loyalität jedoch nicht: Nach einem Mitarbeitergespräch Adeles mit der Chefin, über dessen Inhalt man bis heute nichts Genaueres weiß, kühlte die Beziehung schlagartig ab. Die Chefin würdigte ihre einstige Geheimdienstoffizierin keines Blickes mehr. Hatte sie ihr etwas mitzuteilen, betrat sie das Büro und beauftragte Suuus, Adele dieses und jenes auszurichten, obgleich die Angesprochene nur fünf Meter entfernt an ihrem Arbeitsplatz saß. An einem frühen Winternachmittag vor einigen Jahren sah ich Adele – hochrot im Gesicht und begleitet von Albrecht, dem allerengsten Vertrauensmann der Geschäftsleitung – die Treppen hinuntersteigen. Obwohl mitten während der Arbeitszeit, trug sie ihre rote Daunenjacke und ihre Handtasche unter dem Arm. 15 Minuten später rief der Chef zu einer »Mitarbeiterbesprechung«, wie sie nur alle paar Jahre einmal stattfand. In einem großen Büro im Erdgeschoß standen die etwa 20 Angestellten der Firma in einem großen Halbkreis, während der Chef mit Leidensmiene verkündete, er habe Adele soeben fristlos entlassen müssen. Nicht dass sie in irgendeiner Weise kriminell gewesen oder der Firma auf andere Weise in den Rücken gefallen sei, aber ihr sei bereits zum zweiten Mal ein Fehler unterlaufen, der die Firma viel Geld koste, er müsse diese Konsequenz daher also ziehen.
Ich bin heute mit Adele in losem Kontakt. Nach ihrem Ausscheiden aus der Firma veränderte sie sich Gott sei Dank um 180 Grad. Obwohl sie große Scheu davor hatte, irgendwelche kompromittierenden Interna preiszugeben, teilte sie einigen von uns bei einem späteren Treffen mit, was ihre fristlose Entlassung bewirkt hatte: In ihrer versperrbaren Schreibtischlade hatte sie eine Mappe, darin, nach Tagen geordnet und fein säuberlich durch Zwischenblätter getrennt, jene Zahlungen, welche zum jeweiligen Zeitpunkt getätigt werden mussten. So brauchte sie nur das aktuelle Blatt aufzuschlagen und hatte alle anstehenden Erledigungen parat. Eines Tages wurde ihr mitgeteilt, dass irgendetwas nicht termingerecht erledigt worden sei, dadurch sei der Firma ein Schaden von etwa 16.000 Euro entstanden, zufällig etwas mehr, als die Firma ihr an Abfertigung zu bezahlen gehabt hätte. Natürlich nahm sie unverzüglich ihre Mappe zur Hand und schlug jenes Blatt auf, wo sich die angeblich vergessene Aufgabe befinden hätte müssen. Und siehe da: Wie durch ein Wunder befand sich unter all den leeren Blättern jene verhängnisvolle Seite, wo ein einziges Blatt zurückgeblieben war: die unerledigte Finanztransaktion, welche angeblich den Schaden für die Firma verursacht hatte. Ich brauche an dieser Stelle wohl kaum zu erwähnen, wer außer Adele noch einen Schlüssel für diese Schreibtischlade hatte.
Man bot Adele an, auf eine Klage wegen der 16.000 Euro zu verzichten, wenn sie im Gegenzug dafür darauf verzichte, in ihrer Angelegenheit die Arbeiterkammer oder gar das Arbeitsgericht zu bemühen. Die Geschäftsleitung wusste wohl, dass sie dieses Angebot annehmen würde. Eine elegante Lösung für die Firma. »Drei zu null für die Chefin«, möchte man da fast sagen.
Wie tickt die Wirtschaft?
Bei mir trudelten mittlerweile die ersten Absagen ein. Generell war der Tenor, dass man wohl meine hervorragende Qualifikation lobte, sich aber einen »noch besser geeigneten Bewerber aus der Fülle der eingegangenen Bewerbungen« herausgepickt habe. Wie man zu diesem Urteil über die bessere oder schlechtere Eignung gekommen ist, ohne mit mir auch nur ein Wort gewechselt zu haben, blieb mir natürlich verborgen. Eine tolle Formulierung in den Ablehnungsschreiben war auch jene vom »beeindruckenden Lebenslauf«. Sicherlich, nicht jeder Bewerber konnte 28 Jahre Berufserfahrung in sieben verschiedenen Unternehmen und insgesamt mindestens 100 Wochen an Fortbildungen nachweisen. Aber im Prinzip las es sich doch so, als würde mir ein vielleicht 33-jähriger »Human Resources Manager« mitteilen wollen, ich alter Trottel hätte in einem jungen und dynamischen Unternehmen, wie dies sein Arbeitgeber eben sei, nichts verloren.
Was wünschen sich Firmen eigentlich? Wissen sie überhaupt, um welchen Preis man sich notfalls »verkaufen« würde, wenn die Position interessant und sicher klingt? Ist es überhaupt gewiss, dass man einen gut qualifizierten 30-Jährigen um dasselbe Geld langfristig halten kann? Können sich Firmen überhaupt vorstellen, dass ein fast 50-Jähriger weniger als einen Tag Krankenstand pro Jahr konsumiert? Dass ein solcher Mensch leistungsfähig und motiviert ist? Dass er gesund und nachhaltig lebt, sein Leben in stabilen Bahnen hält und demnach seine Energie überproportional in seine Arbeit stecken kann, dass dieser Mensch wahrscheinlich einen höheren Workload einbringt als ein 25-Jähriger, der ein Drittel seiner Arbeitszeit darin investieren muss, auch tagsüber auf Facebook und WhatsApp am Laufenden zu sein?
Der Zufall wollte es, dass meine Tochter just zu dieser Zeit als Assistentin der Geschäftsleitung in einem technischen Handelsbetrieb tätig war. Als solcher oblag es ihr, die eingehenden Bewerbungen zu sammeln und alle paar Wochen mit dem Chef durchzugehen, um den laufenden Personalbedarf der Firma abdecken zu können. Bei ihr trafen viele Bewerbungen ein, denen man ansah, wie viel Mühe sich der Absender damit gemacht hatte: aufwändige Mappen, bunte Bilder, perfekt gestaltete und auf die Firma abgestimmte Coverseiten. Die Vorgangsweise des Chefs war folgende: Er blätterte die Mappen kurz auf, um bis zum Bewerbungsfoto zu gelangen. Hatte eine Person einige Fältchen im Gesicht, so schlug er die Mappe sofort wieder zu. »Zu alt«, war der lapidare Kommentar, mit dem er über die Zukunft von Menschen entschied. Er sah sich oft nicht einmal das Geburtsdatum an, weil dies für ihn bereits zu viel Aufwand bedeutet hätte. In der Privatwirtschaft ist man heute ab 40 pauschal zu alt, zu teuer, zu oft krank, zu unflexibel; und überdies kann man vermutlich auch nicht mehr »geformt« werden. Interessant wird man erst wieder ab 55, denn dann zahlt das AMS einen Gutteil des Gehalts. So kann sich die Wirtschaft ziemlich billig mit qualifizierten und motivierten Arbeitskräften eindecken, die plötzlich nicht mehr zu alt und zu unflexibel sind und aus denen man in den verbleibenden Jahren bis zur Pension noch allerhand herauspressen kann, ohne tief in die Tasche greifen zu müssen.
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