Wolfgang Martin
Paradiesvögel fängt man
nicht ein
Hommage an Tamara Danz
eISBN 978-3-95958-810-2
1. Auflage
© 2021 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildungen: ullstein bild - Teutopress (vorn) / Ute Mahler/OSTKREUZ (hinten)
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Axel-Springer-Straße 52
10969 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
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Bye-bye, my Love
Ich will nur einmal mit den Vögeln zieh’n
Bye-bye, my Love
Ich komme wieder, wenn die Wiesen blüh’n
(Tamara Danz, aus dem Silly-Album Hurensöhne, 1993)
Mein Dank gilt allen Musiker*innen, Freund*innen und Weggefährt*innen von Tamara, die an diesem Buch mitgewirkt haben, für ihre offenherzigen Gespräche und Texte, die unsere Erinnerungen an einen außergewöhnlichen Menschen wachhalten. Besonders danken möchte ich Uwe Hassbecker und Rüdiger Barton, die ihre Herzen und Archive sehr weit öffneten.
1 Gib mir Asyl,
hier im Paradies
Es war einer der traurigsten Sommer meines Lebens. Am 22. Juli 1996 starb TAMARA DANZ und knapp einen Monat später, am 20. August, RIO REISER. Zwei der bedeutendsten Stimmen und Künstler der deutschen Rockmusik waren für immer verstummt.
Durch meinen Kopf schwirrten Akkorde, Melodien und Textfetzen, flüchtig, als würden sie gar nicht zusammenpassen. der nebel legt sich blei … für immer und dich … gib mir asyl, hier im paradies … wo bist du … wenn die nacht am tiefsten ist … die ferne ist ein schöner ort …
Den Tag, an dem ich von einem ORB-Kollegen benachrichtigt wurde, Tamara Danz sei gestorben, werde ich nie vergessen. Es war ein Montag und ich hatte mir diesen Tag im Sender frei genommen, um meinem Freund »Holle« in seinem Plattenladen in Köpenick auszuhelfen, weil er irgendeinen Behördentermin wahrnehmen musste. Das habe ich immer gern gemacht, meistens am Samstag, weil ich dafür nicht extra einen Urlaubstag nehmen musste. So ein Plattenladen war früher ein großer Traum von mir gewesen, und in der Wendezeit loderte er wieder auf, weil nicht klar war, ob es mit dem Radiojob weitergehen würde. Aber das tat es ja, zuerst bei Radio Brandenburg und schließlich bei Antenne Brandenburg, da war ich im Sommer 1996 bereits seit einem Jahr.
Ich erinnere mich, dass ich in Holles Laden gleich eine Silly-CD eingelegt habe, vermutlich Bataillon d’Amour, und wenn keine Kunden drin waren, den Tränen freien Lauf ließ. Obwohl wir wussten, dass 1995 – SILLY arbeitete gerade an ihrem siebten Studioalbum Paradies – bei Tamara Brustkrebs diagnostiziert worden war, überfiel mich diese Nachricht mit ihrer seelenlosen Endgültigkeit wie ein großer Schock. Am nächsten Morgen kam es überall in den Nachrichten, zahlreiche Sender brachten teils ausführliche Nachrufe, in den Tageszeitungen war es am Mittwoch zu lesen.
Am Dienstag, wieder im Büro, rief mich eine Kollegin aus der Kulturredaktion vom Deutschlandfunk Kultur an und bat mich, ihr in einem Interview das Phänomen Tamara Danz zu beschreiben. Auf mich gekommen war sie durch eine Empfehlung meines früheren DT64-Kollegen und Freundes Leo Gehl. Sie war sehr ehrlich, als sie mir im kurzen Vorgespräch erzählte, dass sie Tamara und Silly bis dahin gar nicht gekannt hatte, wollte es nicht darauf schieben, dass sie »ja aus dem Westen« käme. Ihr Interesse und schließlich ihre Zusage, diesen Beitrag zum Tode von Tamara Danz zu realisieren, rührte von den vielen starken emotionalen Aussagen her, die sie in den zurückliegenden vierundzwanzig Stunden gelesen, gehört und gesehen, sich inzwischen auch mit einigen Songs vertraut gemacht hatte.
Sie war so gut vorbereitet, dass es mir eine Freude war, auf interessante Fragen zu antworten. Das »Phänomen« Tamara Danz zu erklären, zögerte ich ein wenig. Schließlich hatte ich sie natürlich, ganz real erlebt, in all ihren mentalen und emotionalen Facetten, ernsthaft und liebenswürdig, auch temperamentvoll und aufbrausend. Es blieb also nicht bei der Feststellung, mit Tamara Danz sei die namhafteste Rocksängerin der DDR gestorben. Wir konnten gemeinsam in diesem Gespräch viel mehr von der Musikerin und Künstlerin, dem Menschen und der Persönlichkeit, dem Phänomen Tamara Danz vermitteln.
Darum soll es auch in diesem Buch gehen, das mit Geschichten, Gedanken und Statements vieler Freund*innen und Weggefährt*innen die Erinnerung an diese wunderbare Frau wachhalten will. Das ist leicht und zugleich schwer, denn in den Jahren nach ihrem Tod sind bereits so viele Artikel und Bücher, Porträts und Dokumentarfilme, immer neue Kompilationen veröffentlicht worden. Sogar ein Musical gibt es, Tamara, das am 29. September 2018 an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt Premiere feierte. Straßen wurden nach ihr benannt, die erste im November 2006 in Berlin-Friedrichshain und die zweite im thüringischen Breitungen/Werra, wo Tamara Danz am 14. Dezember 1952 im heutigen Ortsteil Winne das Licht der Welt erblickte. Ihre Kindheit verbrachte sie aber an verschiedenen Orten, auch im »befreundeten« Ausland, in Bulgarien und Rumänien, wo ihr Vater, ein Baumaschinen-Ingenieur, als Handelsrat tätig war, bis er politisch in Ungnade fiel. Dieser familiäre Vorfall und ihre kritische Meinung zum Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in die damalige ČSSR, »von den Regierenden, den Parteien und Medien der DDR begrüßt und gutgeheißen«, schärfte das politische Weltbild der damals fünfzehnjährigen Tamara Danz.
Bulgarien: Tamara im Alter von drei Jahren
Seit ihrem Tod sind neue Rocklieder entstanden, die ihre früheren Kollegen für sie komponiert und getextet haben: die Band CITY 2004 den Song »Tamara« auf dem Album Silberstreif am Horizont oder »ihre Jungs«, die Band Silly, 2010 »Sonnenblumen (für Tamara)« auf dem Comeback-Album Alles Rot, erstmals mit Sängerin ANNA LOOS. Den poetischen Text (wie auch alle weiteren dieses Albums) schrieb Tamaras Alter Ego, WERNER KARMA.
Eine weit in die Zukunft weisende Ehrung führt nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt, dort in die Burchardikirche, einem bald tausend Jahre alten ehemaligen Kloster. In dem Städtchen wurde 1361 »die erste Großorgel der Welt, eine Blockwerksorgel, gebaut. Diese Orgel stand im Dom und hatte zum ersten Mal eine (12-tönige) Klaviatur.« In St. Burchardi, lange dem Verfall preisgegeben, wird ein außergewöhnliches Vorhaben verwirklicht:
1987 komponierte der amerikanische Musiker und Künstler JOHN CAGE das 1989 in einer neunundzwanzigminütigen Version von dem deutschen Organisten GERD ZACHER uraufgeführte Orgelstück »ORGAN²/ASLSP«. Die Abkürzung steht für »as slow as possible« und ist die Anweisung von John Cage, »die achtseitige Partitur so langsam wie möglich zu spielen«. Dahinter steckt das komplexe Anliegen des 1912 in Los Angeles geborenen und 1992 in New York gestorbenen Avantgardisten, »ein Bewusstsein zu schaffen, für Musik, für Verhaltensweisen und für unser Vermögen zu denken«. Seit 2001 nun wird dieses Werk, im Ergebnis eines Orgel-Symposiums 1997 und den Intentionen von John Cage folgend, »in der Burchardikirche in Halberstadt als langsamstes und längstandauerndes Orgelstück der Welt in einer Gesamtlänge von 639 Jahren aufgeführt«. Der nächste Klangwechsel findet am 5. Februar 2022 statt.
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