Auf seinen bisher neun Vollversammlungen standen unterschiedliche ökumenische Themen im Vordergrund. Die erste Konstante bildete die Diskussion sozialethischer Themen , ausgehend vom Leitbild einer »verantwortlichen Gesellschaft« im Dienst der ganzen Menschheit (nicht nur der Kirchen). Vor allem die sechste Vollversammlung 1983 in Vancouver vertrat unter dem Leitwort »Jesus Christus – das Leben der Welt« einen weiten Ökumenebegriff: Im Mittelpunkt standen die Überlebenschancen der Menschheit angesichts ökologischer, ökonomischer und militärischer Bedrohung. Der »Vancouver-Bericht« empfahl einen »konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«, der in Europa zu den Europäischen Ökumenischen Versammlungen von Basel (1989), Graz (1997) und Sibiu (2007) führte. Seit Sibiu wird auf Vorschlag der orthodoxen Kirchen der 1. September als »Tag der Schöpfung« begangen.
Für Zündstoff sorgte das »Antirassismusprogramm« des ÖRK, das bereits auf der vierten Vollversammlung in Uppsala 1968 vorbereitet und auf der fünften Vollversammlung 1975 in Nairobi unter dem Motto »Jesus Christus eint und befreit« ausformuliert wurde. Mit »Kehrt um zu Gott, seid fröhlich in Hoffnung« initiierte die achte Vollversammlung 1998 in Harare die »Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt«, die 2011 in Kingston beendet werden soll. Auch das Motto der neunten und bisher letzten Vollversammlung 2006 in Porto Alegre »In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt« räumt ökumenischer Sozialethik einen breiten Raum ein. Hier wurden anhand des »AGAPE-Papiers« der Kirchen des Südens die Armutsfrage und die Verantwortung des Nordens diskutiert.
Die zweite thematische Konstante bildet das Ringen um Einheit . Bereits in Evanston hatte sich der ÖRK das sogenannte »Lund-Prinzip« zu eigen gemacht: Die dritte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung hatte 1952 in Lund empfohlen, die Kirchen sollten in allen Dingen gemeinsam handeln – außer in Fällen, wo tiefe Unterschiede der Überzeugung sie zwingen, für sich allein zu handeln. 1961 in Neu-Delhi formulierte die dritte Vollversammlung (an der zum ersten Mal katholische Beobachter teilnahmen) das Ziel universal als »Einheit aller an jedem Ort«. Die vierte Vollversammlung in Uppsala 1968 modifizierte die Zielvorgabe zur »Einheit aller Christen an allen Orten«. 1975 befasste sich die fünfte Vollversammlung in Nairobi mit der Frage, wie sich sichtbare Einheit verwirkliche, und forderte die Kirchen zum gemeinsamen Zeugnis an jedem Ort auf. Doch welches Einheitsmodell sollte in Zukunft maßgeblich sein: eucharistische oder konziliare Gemeinschaft? Multilateral konnte man zwar keine Einigung erzielen, doch dienten die Weichenstellungen mehreren Kirchen als bilaterale Grundlage. So ergänzte 1977 der Lutherische Weltbund in Daressalam das Modell einer konziliaren Gemeinschaft um die Betonung konfessioneller Aspekte und entwickelte sein Modell »versöhnter Verschiedenheit«: Konfessionelle Gemeinschaften bleiben weiterhin bestehen, verlieren aber ihren kirchentrennenden Charakter. Als Meilenstein auf dem Weg zu sichtbarer Einheit darf die »Konvergenzerklärung über Taufe, Eucharistie und Amt« der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung von 1982 in Lima gelten. Hier wurden eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis der Taufe und Konvergenzen im Eucharistie- und Amtsverständnis festgestellt. Die dort entworfene interkonfessionelle »Lima-Liturgie« ermöglichte ein Jahr später den Delegierten der sechsten Vollversammlung in Vancouver die Erfahrung gemeinsamer Gottesdienste (allerdings ohne dass Katholiken und Orthodoxe zur Kommunion gingen). Auch die siebte Vollversammlung in Canberra 1991, für die mit »Komm, Heiliger Geist, erneuere die ganze Schöpfung« zum ersten Mal ein pneumatologisches Motto gewählt war, hatte die Einheitsfrage als Schwerpunkt: Das Dokument »Die Einheit der Kirche als Koinonia: Gabe und Berufung« entwarf ein biblisches Konzept der koinonia (Gemeinschaft), welches Einheit und Pluralität einander zuordnete. Allerdings funktionierte die koinonia vor Ort nicht. Da manche ein gemeinsames Herrenmahl forderten, kam es mit den Orthodoxen zu heftigen Diskussionen über Eucharistiegemeinschaft und Frauenordination. Diese führten bis zur achten Vollversammlung in Harare 1998 zum Austritt der bulgarischen und georgischen Kirche und zur Einrichtung einer Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit. Auf der neunten Vollversammlung in Porto Alegre 2006 bildete die Einheitsfrage ebenfalls ein beherrschendes Thema: Das Dokument »Berufen, die eine Kirche zu sein« schlug erstmals konkrete Schritte zur Verständigung über das Kirchenverständnis vor, sodass sich Kirchen auf dieser Basis bilateral einigen können.
3. Die katholische Kirche und die Ökumene
Mortalium animos (1928) – Zweites Vatikanisches Konzil (1962 – 65) – Entwicklung bis 2010
Auf nicht katholischer Seite ging die Initiative zu ökumenischem Engagement von den Kirchenleitungen aus und ist, gestärkt durch Organisationen wie den Ökumenischen Rat der Kirchen, an die Basis gelangt. Für die katholische Seite stellt sich die Lage genau umgekehrt dar: Zunächst traf die ökumenische Bewegung auf ablehnende Reaktionen der Kirchenleitung. In der Enzyklika Mortalium animos von
1928 sah PIUS XI. (CHILLE AMBROGIO DAMIANO RATTI, 1857 – 1939) in ihr eine religiöse Version des Völkerbundes und warnte vor Scheinlösungen, welche Fragen des Glaubens und der Wahrheit hintanstellten. Eine katholische Beteiligung kam nicht infrage.
Doch gerade in den Kriegsjahren unter den erschwerten Bedingungen gemeinsamer Verfolgung hatten sich in Deutschland erste Annäherungen zwischen katholischer und evangelischer Seite entwickelt, z. B. in der »Una-Sancta-Bewegung«, die über ökumenisch gesinnte Bischöfe wie den Paderborner Erzbischof LORENZ JAEGER (1892 – 1975) in Rom Gehör fanden. Auch in anderen Ländern gab es eine Reihe geistlicher Wegbereiter von unten. So betonte der französische Priester PAUL COUTURIER (1881 – 1953), das Wort »alle sollen eins sein« (Joh 17, 21) sei kein Gesetz, sondern ein Gebet. Durch seine Initiative wurde die schon 1908 approbierte »Gebetswoche für die Einheit der Christen« seit 1940 jährlich begangen. Der reformierte Schweizer Theologe ROGER SCHUTZ (1915 – 2005) gründete im Zweiten Weltkrieg eine zunächst evangelische, dann bewusst überkonfessionelle Bruderschaft in Taizé. 1943 rief die Italienerin CHIARA LUBICH (1920 – 2008) die »Fokolar-Bewegung« ins Leben, eine 1962 vom Vatikan approbierte geistliche Gemeinschaft, die z. B. seit 1965 im Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring bei Augsburg das geschwisterliche Miteinander von evangelischen und katholischen Christen lebt.
Dann, nach der Konzilsankündigung von 1959, ging alles sehr schnell: 1960 wurde das Vatikanische Einheitssekretariat gegründet. 1962 begann das Zweite Vatikanische Konzil, eines der wichtigsten Ereignisse der Ökumenegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als erstes Konzil bekannte es sich zu einem ökumenischen Weg: 1964 verabschiedete es das Ökumenismus-Dekret Unitatis redintegratio , welches die ökumenischen Bemühungen um Einheit mit allem Nachdruck unterstützt. »Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils.« 6Es erkannte die Gläubigen aus anderen Kirchen als Schwestern und Brüder in Christus an, denen die Schuld an den Spaltungen nicht allein zukomme, und unterstrich: »Der Heilige Geist, der in den Gläubigen wohnt und die ganze Kirche leitet und regiert, schafft diese wunderbare Gemeinschaft der Gläubigen und verbindet sie in Christus so innig, dass er das Prinzip der Einheit der Kirche ist.« 7Weiter heißt es dort: »Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen.« 8Dass Ökumene kein privater Luxus, sondern Aufgabe der ganzen Kirche ist, findet in das nachkonziliare Kirchenrecht Eingang. 9 Unitatis redintegratio steht nicht isoliert da, sondern in Zusammenhang mit anderen Konzilsaussagen, vor allem mit der Kirchenkonstitution Lumen gentium und der Pastoralkonstitution Gaudium et spes . Alle diese Dokumente vertreten keine exklusivistische Ekklesiologie: Die wahre Kirche Jesu Christi »ist verwirklicht« in der katholischen Kirche. Das schließt aber nicht aus, dass es auch außerhalb der katholischen Kirche Verwirklichungsformen und Elemente von Kirche geben kann. Getaufte Christen anderer Kirchen oder kirchlicher Gemeinschaften stehen durch ihre Taufe »in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche.« 10Zudem bietet die Hermeneutik einer »Hierarchie der Wahrheiten« 11Spielraum zur Diskussion. Nach dem Zweiten Vatikanum kann von katholischer »Rückkehr-Ökumene« nicht mehr die Rede sein. Vorherrschend ist eher eine »Integrations-Ökumene« 12, die sich der »Fülle der Katholizität« verpflichtet weiß.
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