Die nationalistischen Bewegungen der Dreißigerjahre sowie die Tatsache, dass mittlerweile in der Sowjetunion, in Italien und in Deutschland totalitäre Regime an der Macht waren, machten eine Besinnung auf die Zuordnung von Kirche, Volk und Staat notwendig. Ökumene wurde nun zu einem Hoffnungszeichen in dunkler Zeit. Die zweite Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1937 in Oxford folgte nach heftigen Diskussionen der »Bekennenden Kirche« und machte sich im Prinzip deren Barmer Theologische Erklärung von 1934 zu eigen (obwohl das NS-Regime die Ausreise der deutschen Delegation verhindert hatte).
Ebenfalls als direkte Folge von Edinburgh 1910 luden auf Initiative des anglikanischen Missionsbischofs CHARLES H. BRENT (1862 – 1929) die amerikanischen Kirchen zu einer Weltkonferenz ein: Durch einen Vergleich der Kirchen sollten auf der Grundlage des Bekenntnisses zu Jesus Christus Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Glauben und Kirchenverfassung festgestellt werden. Im Gegensatz zur Bewegung für Praktisches Christentum , in welcher Fragen des Glaubens und des kirchlichen Amtes tendenziell eher zurückgestellt wurden und stattdessen nach der Maxime »Die Lehre trennt, der Dienst eint« das gemeinsame Zeugnis im Vordergrund stand, wollte die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung gerade diese Fragen bewusst thematisieren. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg konnten die amerikanischen Kirchen in Europa für ihr Vorhaben Zustimmung finden. Vor allem sicherten nun auch die orthodoxen Kirchen ihre Mitarbeit zu; so sandte das Ökumenische Patriarchat 1920 eine Enzyklika »An die Kirchen Christi in der ganzen Welt« 2, die dazu einlud, einen Kirchenbund nach dem Vorbild des im selben Jahr gegründeten Völkerbundes ins Leben zu rufen und eine Gemeinschaft (griech. koinonia ) der Kirchen als Ziel der ökumenischen Bemühungen anzustreben. Die katholische Kirche allerdings lehnte jede Mitarbeit ab.
Die erste Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung fand 1927 in Lausanne statt. Mit 394 Teilnehmern aus 108 Ländern stand sie für ein weltumspannendes Konzept von Ökumene. Die Präambel zeugt von Einheitsoptimismus: »Mit Dank gegen Gott freuen wir uns der erreichten Verständigung. Auf das, worin wir einig sind, bauen wir weiter. Wo die Berichte aber Differenzen verzeichnen, da möge man – und wir rufen die ganze christliche Welt dazu auf – die widerstreitenden Meinungen, wie sie zur Zeit vertreten werden, einer ernsten Nachprüfung unterziehen und in dem Bemühen nicht erlahmen, die in Gottes Gedanken vorhandene Wahrheit zu finden, auf welche die Einheit der Kirche sich gründen muß.« 3
Eine der Grundfragen der Ökumene lautet bis heute: Welche Einheit wollen wir? Orthodoxe und römisch-katholische, aber auch anglikanische Christen können sich Einheit letztlich nur als sichtbare echte Vereinigung vorstellen; alles andere sind bloße Zwischenschritte auf dem Weg zu wahrer Einheit. Auch in Lausanne standen sich bereits zwei Einheitskonzeptionen gegenüber: die »Organische Union«, ein vor allem von anglikanischer Seite favorisiertes Modell der Fusion von Kirchen auf der Grundlage gemeinsamer Glaubensartikel, 4und die »Föderation« als Zusammenschluss weiterhin selbstständig bleibender Konfessionskirchen, wofür die protestantischen Kirchen plädierten. Auch wenn es zu keiner Einigung kam, wurde doch das Ziel klar umschrieben: Am Ende sollen sich die Kirchen gegenseitig als Kirchen anerkennen und einander volle Sakramentengemeinschaft gewähren.
Die zweite Weltkonferenz von Glauben und Kirchenverfassung fand 1937 in Edinburgh statt. Hier trafen sich etwa 450 Delegierte unter Vorsitz des anglikanischen Erzbischofs WILLIAM TEMPLE (1881 – 1944). Man erreichte eine Verständigung über »Rechtfertigung und Heiligung« sowie »Wirken Gottes und Verantwortung des Menschen«. Die schon in Lausanne zu Tage getretenen Gegensätze in den Punkten »Amt«, »Kirchenverständnis« und »Einheit« blieben zwar bestehen, doch wurde der sich abzeichnende Konsens in der Rechtfertigungslehre als Grundlage für eine zukünftige Anerkennung der Ämter und für eine gegenseitige Zulassung zu den Sakramenten gesehen. Nach wie vor blieb aber zwischen reformatorischen und orthodoxen Kirchen umstritten, ob die gegenseitige Zulassung zum Abendmahl Mittel zur Erreichung der Einheit oder erst Ausdruck bereits erreichter Einheit sei.
2. Der Ökumenische Rat der Kirchen (1948 – 2010)
Entstehung – Selbstverständnis – Schwerpunktthemen der Vollversammlungen
NATHAN SÖDERBLOM hatte schon 1919 seine Idee eines Weltkirchenrates geäußert. 1937 war sie durch Erzbischof WILLIAM TEMPLE und WILLEM A. VISSER’T HOOFT (1900 – 1985), den späteren ersten Generalsekretär, aufgegriffen worden. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg – zum Teil auch veranlasst durch die Rolle der Kirchen während dieser Konflikt- und Krisenzeit – kamen 1948 in Amsterdam 361 Delegierte von 147 Kirchen aus 44 Ländern zusammen, um den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ins Leben zu rufen. Nach dem »Stuttgarter Schuldbekenntnis« von 1945 war auch die Teilnahme einer deutschen Delegation wieder möglich. Nicht vertreten waren allerdings die römisch-katholische und die russisch-orthodoxe Kirche – die Sowjetunion hatte den russischen Delegierten die Ausreise verweigert. Vertreter der griechischen Orthodoxie und des Ökumenischen Patriarchats waren aber anwesend, allen voran Patriarch GERMANOS STENOPOULOS von Seleukia (1872 – 1951), dessen Handschrift bereits die Enzyklika von 1920 getragen hatte. Die erste Vollversammlung in Amsterdam stand unter dem Motto »Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan«. Neben einem kirchlichen Beitrag zur Weltordnung und zu einer »verantwortlichen Gesellschaft« standen die Konsolidierung und Selbstorganisation des neu gegründeten Kirchenrates im Mittelpunkt der Beratungen. In der Bezeichnung »Ökumenischer Rat« besagt »ökumenisch« nun, dass es sich nicht nur um einen (weiteren) Zusammenschluss protestantischer Kirchen, sondern um eine weltumspannende und in diesem Sinn »katholische« Bewegung handelt. NATHAN SÖDERBLOM hatte dies bereits Jahre zuvor auf den Punkt gebracht: »Die katholische Kirche hat drei Hauptabteilungen: die orthodox-katholische, die römisch-katholische und die evangelischkatholische.« 5
Als Basisformel griff der ÖRK auf die Formel des CVJM von 1855 zurück, welche sich schon die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung zu eigen gemacht hatte: »Der ÖRK ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die unseren Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen.« Die dritte Vollversammlung von Neu-Delhi 1961 ergänzte diese bis heute gültige Formel zu »[…] die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«. Laut der zweiten Vollversammlung von Evanston 1954 ist diese Basisformel zwar kein gemeinsames Bekenntnis, aber doch mehr als eine bloße Einigungsformel. Durch ihre klare christologische und trinitarische Struktur ist einerseits gegenüber Sekten oder nicht christlichen Religionen eine klare Grenze gezogen, andererseits ist aber zugleich die Mitgliedschaft von Kirchen mit unterschiedlichem Kirchenverständnis ermöglicht. Eine solche schließt nicht automatisch ein, die anderen Mitgliedskirchen als Kirchen im Vollsinn anzuerkennen; es ist lediglich zuzugestehen, dass in anderen Kirchen zumindest Elemente der wahren Kirche realisiert sind. So macht z. B. die orthodoxe Kirche keinen Hehl aus ihrer Auffassung, als einzige Mitgliedskirche des ÖRK das altkirchliche Bekenntnis voll gewahrt zu haben. Der ÖRK hat keine Autorität über seine Mitgliedskirchen. Er versteht sich nicht als »Überkirche«, sondern als »Kirchen-Bund«, als Werkzeug, welches der Einheit der Kirche Jesu Christi dient, wie sie im Glaubensbekenntnis ausgesagt wird. Der ÖRK ist, wie die Sitzung des Zentralausschusses 1950 in Toronto klarstellte, »ekklesiologisch neutral«. Die Aufnahme einer Kirche in den ÖRK erfolgt durch die alle sechs bis acht Jahre stattfindenden Vollversammlungen oder durch den Zentralausschuss. Voraussetzung ist, dass diese Kirche zur Übernahme der Basisformel bereit ist und mindestens 50 000 Mitglieder zählt sowie dass mindestens zwei Drittel der Mitgliedskirchen zustimmen. Im Jahr 2010 gehören dem ÖRK 349 Kirchen der anglikanischen, orthodoxen und protestantischen Konfessionsfamilie an und damit weltweit mehr als 560 Millionen Christen. Er bildet eine Plattform, welche den Kirchenbünden wie den einzelnen Kirchen das ökumenische Miteinander und den Dialog erleichtert.
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