Manchmal steht der Penis völlig unmotiviert einfach so in der Gegend herum, zumeist morgens beim Aufwachen, ohne dass der dazugehörige Mann eine sexuelle Erregung verspürte. Das nennt man salopp eine Morgenlatte. Hierfür reicht der mechanische Druck der vollen Harnblase gegen die Prostata. Nicht selten führt das dazu, dass, spätestens unter der Morgendusche, die Erregtheit des Penis auf den Mann überspringt. Dann, so könnte man sagen, wird der Mann von seinem eigenen Penis verführt.
Dies alles bedenkend, erscheint der Penis als jenes Körperglied des Mannes, dem man fast schon eine Art von Charisma zusprechen möchte. Dieses fließt ihm freilich erst im Anschwellen, Versteifen und Aufrichten zu. ›Charisma‹ meint ja ursprünglich nichts anderes als eine Gnadengabe, wie sie etwa einem religiösen Propheten oder weltlichen Herrscher von Gott als eine Art göttliche Berufung zuteil werden kann. Die Erektion ist das Charisma des Penis, sie ist seine auf Hingabe zielende Begabung, seine Berufung. Umso schwerer wiegt sein Versagen. Es vernichtet schlichtweg das Männlichste am Mann.
Viertes Kapitel
Der berühmteste Penis der Kunstgeschichte
Der Penis hat, in der Art des altrömischen Gottes Janus, zwei Gesichter: ein langweiliges, weil schlaff hängendes, und ein aufregendes, weil markant aufragendes. Dieses Vermögen, sein Gesicht – und damit seinen Charakter – von Grund auf und je nach Bedarf zu wechseln, verleiht ihm nicht nur Charisma, sondern auch einen Hauch von Geheimnis. Denn jedes Geheimnis ist janusköpfig.
Umso erstaunlicher, dass der Penis es allein in Gestalt des schlaffen Würstchens zu ästhetischem Ruhm gebracht hat. Phalli kommen, zumindest seit der griechischen und römischen Antike, in der abendländischen Bildenden Kunst nicht vor. Selbst der patriarchalische Wahn der alten Griechen ging nicht so weit, den idealen nackten Männerkörper, der für sie ohnehin ein Knabenkörper war, mit erigiertem Penis darzustellen. Zumindest sind solche Werke nicht überliefert. Hingegen gibt es unzählige antike Darstellungen von Phalli, mit denen göttliche oder halbgöttliche Gestalten im Gefolge des Weingottes Dionysos ausgestattet sind, voran der bocksfüßige Hirtengott Pan oder die Fruchtbarkeitsgötter Priapos, Satyr und Silen.
Die klassischen griechischen Darstellungen von nackten Göttern und Heroen, etwa eines Ares, Herakles, Theseus oder Achilles, zeigen nicht nur keinen Phallus, sondern lassen den Heldenpenis knabenhaft klein, ja geradezu winzig erscheinen. Dem Heroismus des Helden tut das keinen Abbruch. Der Held selbst ist die Erektion; er verkörpert das Phallische in Gestalt des Kämpfers und Kriegers. Das ist auch der Grund, wieso der antike griechische Heros fast ausnahmslos nackt dargestellt wird: Man erkennt ihn an seinen typischen Waffen-Insignien und an seiner Nacktheit. Das ist insofern verwunderlich, als der nackte Körper so gar nicht zum Krieger passt; diesen verlangt es nach einer schützenden Rüstung.
Die Darstellung eines nackten Mannes mit erigiertem Penis verbietet sich in der Kunst, und dies gewiss nicht nur aus Gründen der Scham, sondern ebenso aus Gründen der Ästhetik. Nicht, dass der Phallus an sich hässlich wäre, nein, er kann sogar schön oder zumindest wohlgestaltet sein. Doch selbst der schönste und stolzeste Phallus würde die nackte männliche Gestalt, gerade wo sie als Skulptur ein klassisches Ideal verkörpern soll, ins Lächerliche ziehen. Nicht nur, dass der Anblick Anstoß erregte – der harmonische Gesamteindruck der Figur wäre auf groteske Weise gestört. Denn das Groteske ist letztlich nichts anderes als entstellte Harmonie. Diesen verzerrenden, die Harmonie störenden Effekt kennt man auch von stark abstehenden Ohren, zu Berge stehenden Haaren oder extrem großen Nasen. An einem Körper darf nichts übermäßig abstehen, wenn er dem herrschenden Schönheitsideal entsprechen soll.
Das Groteske ruft im Betrachter drei grundlegende Reaktionen hervor, die sich mit unserem ästhetischen Empfinden nur schwer vereinbaren lassen: Zuerst ein Erstaunen, das sich bis zum Erschrecken steigern kann, dann ein Gelächter, das sich mit Hohn und Spott vermischt, und schließlich ein Abscheu, der im Ekel endet. Gewiss, das Groteske im Allgemeinen und die Groteske im Besonderen sind der Kunst nicht fremd, doch ein Künstler, der mit seinem Werk weder Erschrecken, noch Gelächter und vor allem keinen Ekel erzeugen will, wird das Groteske meiden.
Der steife, grotesk abstehende Penis störte aber nicht nur das äußere Gleichmaß der Figur, sondern er zerstörte über die männliche Geilheit, für die er steht, auch ihr inneres Gleichgewicht. Dem Bild oder der Skulptur eines nackten erigierenden Mannes fehlte jedes Geheimnis. Vom Geheimnis aber lebt alle zählende Kunst. Kunst ist Illusion – und das Geheimnis ist die höchste Form der Illusion. Eine Erektion jedoch ist die Desillusionierung schlechthin. Bei der künstlerischen Darstellung eines nackten Mannes mit erigiertem Penis wüsste man sofort alles über den momentanen inneren Zustand des Dargestellten: Der Mann ist geil, und sonst nichts. Da ist kein Platz mehr für Geheimnis und Illusion.
Daraus folgt mit zwingender Notwendigkeit, dass eine künstlerisch ernstzunehmende Darstellung des nackten männlichen Körpers keine Erektion erlaubt. Das Männlichste am Mann wird von den Musen, den Hüterinnen einer harmonischen Ordnung, entschieden zurückgewiesen. Vom Phallus wenden sie sich ab mit Grausen. Hinzu kommt, dass der öffentliche Raum, zu dem auch die Räume der Museen zu zählen sind, den Phallus trotz allgemeiner Sexualisierung unseres Alltags nicht duldet. Ein erigierter Penis hat noch immer das Potential, zu erregen – voran das öffentliche Ärgernis.
Selbst ein großer schlaffer Penis ist aus ästhetischen Gründen in der Kunst problematisch; auch er stört die Harmonie des nackten Männerkörpers, wenn auch weniger massiv als ein erigierter. Dies mag auch der Grund sein, wieso man es in der Kunstgeschichte bei Darstellungen nackter Männer fast ausnahmslos mit bescheidenen Knabenpenissen zu tun hat. Eine berühmte Ausnahme stellt Albrecht Dürer (1471 – 1528) mit seinem kleinformatig gezeichneten Selbstporträt als Akt dar, von ihm selbst als »nackett pild« bezeichnet. Das zweifellos sehr intime Selbstbildnis zeigt uns das beachtliche Gemächt des genialen Künstlers – in schlaffem Zustand, versteht sich. Das Kunstwerk besticht durch seine natürliche, völlig unverkrampfte Schamlosigkeit. Man fragt sich, ob diese zu halten gewesen wäre, wenn Dürer sich mit erigiertem Penis gezeichnet hätte. Ein Tabubruch war es so oder so. Das wusste auch Dürer, weshalb er dieses kleine, aber ausdrucksstarke Werk nie aus den Händen gab.
An Dürers Tabubruch wagte sich die bildende Kunst erst wieder an der Wende zum 20. Jahrhundert heran, allerdings mehr von der weiblichen Seite her, wenngleich ein Maler wie Egon Schiele (1890 – 1918) immerhin einige Selbstbildnisse als nackter Mann mit schlaffem Penis geschaffen hat. Hingegen zeigt Schiele – wie auch sein Lehrer Gustav Klimt (1862 – 1918) – in meisterhaften Zeichnungen und Skizzen masturbierende Frauen in Serie, doch niemals sexuell erregte Männer! Denn anders als beim Mann, bleibt der Körper einer sexuell erregten Frau äußerlich weitgehend unverändert, weshalb es, die Ästhetik des nackten Frauenkörpers betreffend, vollkommen unerheblich ist, ob ein Künstler eine sexuell erregte oder sexuell unerregte nackte Frau darstellt. Ihre Nacktheit ist in beiden Fällen die gleiche. Beim Mann hingegen stört auf einmal ein sperrig sich ins Blickfeld drängender, den Blick absorbierender Gegenstand.
Von den großen Malern der jüngsten Moderne hätte man am ehesten einem Lucian Freud (1922 – 2011) zugetraut, dass er in der einen oder anderen seiner zahlreichen Darstellungen nackter Männer einen zumindest halbwegs erigierten Penis zeigt. Doch auch der malende Enkel Sigmund Freuds ging dieses Wagnis nicht ein; zumindest ist ein solches Werk bislang nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Sein Oeuvre zeigt in schamloser Draufsicht zwar jede Menge Penisse, aber keinen einzigen in phallischer Hochform, ja nicht mal auf dem Weg dorthin.
Читать дальше