„Genug, um immer wieder ins Loch meiner Depressionen zu fallen“, stammelte ich sichtlich aufgeregt.
„Komm mit! Ich führe dich zur Tür…“ Und aus der Sonne brach ein glänzender Lichtstrom hervor und fiel auf „Dantes Inferno“ im Regal an der Wand, das wie ein magisches Fenster zwischen vielen anderen Büchern stand. Als ich gebannt hinsah, hatte ich das merkwürdige Gefühl, als ob sich eine dreidimensionale Projektion auf dem Buchrücken abzeichnete mit einem irisierenden Leuchten an den Kanten der Ränder, in denen ich plötzlich so etwas wie einen in ein Dreieck eingedrehten Kreis zu erkennen glaubte. Der Kreis begann sich im Dreieck zu drehen und schimmerte wie ein virtuelles Auge. Auf komplexe Weise verknäult und verknotet, stülpte sich das Bild langsam vor meinem Gesichtsfeld um, so daß sich das Innere nach außen wand, und auf einmal hatte ich den Eindruck, daß das Auge ein inneres Loch war, das mich ansaugte. Eine Sekunde lang glaubte ich, es wäre mein eigener Blick, als ich mich selbst auf mich zufliegen sah, meine persönliche Perspektive, die sich zu einem riesigen Auge ausgerollt hatte. Ich empfand eine Art Einladung, einen leichten Sog, und dann hatte ich das seltsame Gespür, als ob ein Teil von mir selbst das Auge war, das durch sich selbst hindurchsah. Blitzschnell erhob ich mich, mehr von der Aussicht beflügelt, etwas verpassen zu können, das bis jetzt nur in meiner Phantasie bestand, als vom Wunsch angetrieben, mich in neue Abenteuer zu stürzen. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf, und da verfing sich mein Blick auch sofort in der flammenden Widmung, die auf der Innenseite prangte:
„Das Auge der Hölle leuchtet aus dem Blick der Erkenntnis!“
Ich ließ das Buch sinken und spürte gleichzeitig einen heftigen Schlag, und mit einem dumpfen Knall fiel der „Dante“ aus meinem Bücherregal auf den Boden und ließ ein Stück Sternenhimmel dahinter erscheinen. Ich schaute auf, und mit einem Mal wurde ich mir eines Porträts gewahr, das in der Nische eingelassen war, und zwar so, daß man es nur sah, wenn man einen der Riesenwälzer aus dem Regal herausgenommen hatte. Es mußte sich um ein Ahnenporträt handeln, auch wenn es mir seltsam vorkam, daß es so versteckt hinter den Büchern war und nicht wie die anderen Porträts in der Familiengalerie hing. Der Glanz der Abendsonne brachte das Bild dabei wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag; nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut und irgendwie schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das komische Gefühl, als blinzelten sie mich an: „Erkennst du mich?“ hörte ich eine Stimme. „Weißt du, wer ich bin?“
„Wo sind wir hier?“ brach es statt einer Antwort aus mir heraus. Meine Persönlichkeitsstruktur sammelte sich in einer weichen, wabbeligen Hirnmasse, und ich bemerkte, wie fremde Gedanken durch mich hindurch zu wirken begannen.
„Gleich wirst du dich wieder erinnern, allmählich wirst du den Standpunkt verstehen, den du in diesem Buch einnimmst…“ Zuerst kroch mir eine lähmende Kälte in den Rücken und dann spürte ich einen eisigen Atem im Genick. Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte eine dunkle, gesichtslose Gestalt hinter meinem Sessel. Sie machte mir Angst, und auf meine unausgesprochene Frage, was sie denn hier zu suchen habe, antwortete sie ebenso lautlos: „Auch wenn es unmöglich ist, mich zu erfassen, weil ich mehr bin, als du je sehen wirst, mehr, als du begreifen kannst, bin ich trotz allem auch ein Teil von dir. Mein Name ist NIEMAND. Ich bin der Wächter an der Schwelle und erscheine jedem in der Gestalt, in der er mich sehen will…“
„Wieland?“ Der Name hörte sich undeutlich an und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
„Genauso, wie das Universum in viele verschiedene Perspektiven aufgeteilt ist, ist auch die Persönlichkeit ein Konglomerat von verschiedenen Selbst, die zahllose Ebenen durchwächst, und dort, wo sie sich mit anderen Dimensionen schneidet, entsteht ein Loch, durch das du in andere Personen eindringen kannst. Komm mit! Ich führe dich zur Tür…“
Unfähig, mich zu rühren, konnte ich spüren, wie ihre Energie in meinen Körper floß. Sie legte mir ihre eisige Hand auf die Schulter und sprach: „Hab keine Angst! Es ist nur eine virtuelle Hölle in deinem Kopf… niemand will dir Böses tun!“
„Wer bist du?“ schrie ich, der Verzweiflung nahe. Ich fühlte, wie sich in meinem Gehirn eine Vorstellung formte, die sich in der räumlichen Sphäre manifestierte. „Was willst du von mir?“
„Hast du mich nicht verstanden? Ich sagte doch, mein Name ist NIEMAND!“ Die Stimme bekam einen triumphierenden Unterton: „Auf deinen Ruf bin ich gekommen, um dir zu zeigen, was du suchst!“
Erschreckende Gewißheit breitete sich in meinem Kopf aus: „… und NIEMAND will mir Böses tun?“ Hämisches Gelächter erfüllte den Raum.
Das war nicht Akron, spürte ich. „Sei ganz ruhig!“ flüsterte mir die sanfte Stimme ins Ohr: „Solange du nicht erkennst, gibt es kein Entrinnen, dein Schatten holt dich ein, wo immer du dich zu verstecken suchst. Aber wenn du mir deine Hand reichst und mit mir hinabtauchst zu den Quellen des Vergessenen, so wirst du dich an Erlebnisse erinnern, die Seelen nicht sehen können, weil sie sie verdrängen auf ihrer Reise ins Licht…“
NIEMAND schien einen empfindlichen Nerv in mir getroffen zu haben, denn ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen traten. „Ich danke dir für die Einladung“, schluchzte ich. „Sage mir, daß du Akron bist!“
„Aber ja doch!“ antwortete er. „Ich sagte schon, daß NIEMAND Akron ist, denn wenn du wieder in der realen Welt erwachst, wirst du alles vergessen haben. Auch wirst du dich an NIEMAND mehr erinnern. Es sei denn…“
„… es sei denn, ich ließe mich in meine verdrängte Hölle hineinfallen - ich hab’s nicht vergessen“, äffte ich ihn nach, auf den vergangenen Dialog mit meiner inneren Stimme anspielend.
„Es sei denn, du ließest dich in die zukünftige Absicht des Lesers hineinfallen, dich auf der Reise begleiten zu wollen! Deshalb habe ich dir die verdrängten Erinnerungen rückwirkend auf den Bildschirm projiziert.“ Es war das Auge eines alten Mannes, das mich im eigenen Blick, ein gespiegeltes Bild im Spiegel und zugleich Spiegel selbst, ansah: „Du glaubst mir nicht? Dann sieh doch mal hinüber in deine Alltagswelt!“
Es war mein eigenes Gesicht, das verdeckt im Schatten lag, das Bild aus dem Regal, das vor mir erschien, während eine digitalisierte Stimme aus dem Gehäuse piepste: „Click mich an, dann wachst du als ‘Geträumter’ direkt in der Hölle deiner zukünftigen Erinnerung auf!“
… oder das in den Anfang eingedrehte Ende
Ich stand im Badezimmer meiner Hotelsuite und prüfte die Falten im Gesicht. Kurz vor sechs. Ein flüchtiger Blick auf die Armbanduhr sagte mir, daß es langsam Zeit wurde. In zwei Stunden begann meine Eröffnungsrede im Ufo-Kongreß. Zuvor hatte ich noch einen wichtigen Pressetermin. „Wo ist die Dame vom Abendblatt?“ murmelte ich verärgert nach einer weiteren Konsultierung der Uhr. Jeder wußte, wie sehr ich Unpünktlichkeit haßte. Es ging mir aber nicht nur um die Zeit, sondern auch darum, daß sie die Unverschämtheit hatte, mich warten zu lassen. Schließlich war ich eine Kultfigur in der internationalen Esoterikszene. Ich ging zum Fenster und öffnete die Gardinen. Blinzelnd stand ich ein paar Sekunden lang im dämmernden Sonnenlicht, verwirrt, während die wirkliche Welt anklopfte. Ich hob den Kopf, und ihr strahlendes Abbild erschien über mir.
Читать дальше