St. Gallen im Februar 2000
Charles F. Frey
(erste Fassung im Mai 1997)

Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte darüber nach, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Ich war traurig, deprimiert, zerstört. Nichts wollte mir gelingen, ich war überall blockiert. Meine Gedanken gingen ins Leere, ich ging ohne mich zu bewegen, denn es war das Schicksalsrad, das sich für mich drehte, eine Fahrt in den Abgrund, in dem die Zeit stillstand. Eigentlich wollte ich ein Buch über das Ringen um die Sinnfrage schreiben, die den Menschen oft in seiner Lebensmitte befällt, doch plötzlich fühlte ich mich selbst in die Abgründe hineingerissen, die ich nur beschreiben wollte, und auf einmal kam mir mein Leben grau und sinnlos vor. Mit dem virtuosen Blick der Selbstzerfleischung hatte ich den dunklen Fleck in mir entdeckt, der mein Selbstverständnis von der Welt und alles, wofür ich kämpfte, allein schon dadurch bedrohte, daß es ihn gab, und deshalb mußte es wohl auch einen Weg geben, ihn aus meinem Leben wieder zu entfernen. «Der Fleck muß verschwinden!» dachte ich laut.
«Doch die Exekution des Fleckes willst du nicht selbst übernehmen, damit dein Weltbild auch weiterhin in Ordnung bleibt, du möchtest vielmehr, daß ich diese Aufgabe für dich übernehme», hörte ich eine näselnde Stimme in mir, die ich für mein abgespaltenes psychologisches Verständnis hielt, «und weil du dich nicht ändern willst, versuchst du, das Leben für dein Scheitern verantwortlich zu machen, statt dir vor Augen zu führen, wo das Übel sitzt und wie schwer es ist, Bestehendes dort zu verändern, wo du selbst Sachverwalter des Bestehenden bist, nämlich in deinem eigenen Kopf.»
«Ich weiß manchmal auch nicht, wie ich das alles in mir zusammenreime», erwiderte ich dem Geist dieser Stimme, die in mir sprach und die ich als inneren Dialog wahrnahm, als sie die Beweggründe meiner Denkmuster kritisierte: «Immer versuchst du dich deinen inneren Ängsten zu entziehen, um dich den Voraussetzungen deiner eigenen Handlungen zu verschließen. Auch jetzt versuchst du über deine Krise intellektuell zu debattieren, aber nicht, um deine Lage zu verändern, sondern nur, um deiner Situation einen vernünftigen Grund zu unterlegen. Wie solltest du da je zur Einsicht gelangen, es sei denn …», sagte sie, einen Augenblick lang innehaltend, um mir die Gelegenheit zu geben, ihr beizustimmen und mich nach einem möglichen Ausweg zu erkunden, was ich auch sofort mit der Frage tat: «… es sei denn was?»
«Es sei denn, du ließest dich bedingungslos in dein unbewußtes schwarzes inneres Loch hineinfallen, in das Zentrum des Flecks», erwiderte die Stimme und machte wieder eine kleine Pause, um diese abschließende Botschaft gewissermaßen in mich einsinken zu lassen: «In deinen Ängsten drückt sich eigentlich nur die Tatsache aus, daß du das moralische Weltbild, die Werte gesellschaftlicher Prägungen, noch immer soweit verinnerlicht hältst, daß du die Erkenntnisse deiner Sinnlosigkeit nicht als Befreiung von diesen anerzogenen Wertvorstellungen, sondern als unzulässige Abweichung von ihnen und damit als Schuld erfährst. Deshalb ist deine Depression auch nicht da draußen, sondern in dir selbst. Sie beruht auf einem Modell, das dir seit Kindesbeinen eingefüttert wurde. Und eine willentliche Veränderung dieser Perspektive bedeutet nicht darüber zu lamentieren, warum das Leben für dich keinen Sinn mehr hat, sondern zu merken, daß im Gegenteil alle dir eingetrichterten Modelle außerhalb ihrer gesellschaftlichen Zielrichtung sinnlos sind. Der Wille zur Genesung kann also nicht bedeuten, den Lebenssinn zurückzuholen, sondern ihn für immer zu verlassen.»
«Wie?» entschlüpfte mir die Frage, denn irgendwie ahnte ich schon, daß diese Verhinderungen nur dazu da waren, erkannt zu werden, denn das innere Erkennen aller Zusammenhänge schien mir die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Leiden kennenzulernen und damit die Voraussetzungen zu ihrer Beseitigung zu schaffen. Die Frage war nur: Wie? Wie sollte das geschehen?
«Zum Beispiel, indem du aus dem Fenster springst!» orgelte es in meinem Inneren.
Meine innere Stimme wollte mich wohl veralbern: «Hast du keinen originelleren Ratschlag für mich?» fragte ich.
«Der Sturz ist die Auflösung des Ich, von dem aus es sich verlierend durch Selbstbetrachtung wieder zurückgewinnen kann. Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», erwiderte die Stimme, «werden alle deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst alles sein, was du sein möchtest. Vieles ist in dir, du brauchst es nur zu wollen. Geh jetzt zum Fenster!»
«Ich bin nicht so verrückt, wie du mich darstellst», gab ich zu bedenken, während ich mich erhob und zögernd zum Fenster ging. Der ganze Himmel war von rotem Abendglanz durchglüht. Es hatte am Vormittag und am Nachmittag die meiste Zeit geregnet, erst gegen Abend teilten sich die Wolken, und die Sonne schien ins Zimmer. «Wahrscheinlich habe ich nur einen Sinnfindungs-Komplex. Im Grunde bin ich ein schüchterner kleiner Junge, der nie richtig erwachsen geworden ist», erklärte ich, «und darum beständig naseweis über seine eigenen Bilder hinauswachsen möchte, die er pausenlos produziert und sie im gleichen Atemzug wieder in Frage stellt, um sich vor seinen eigenen Zweifeln zu schützen …»
Plötzlich züngelte vor meinen Augen ein Blitz, und was dann geschah, erlebte ich wie einen «Trip». Hätte mir jemand eine LSD-Droge verabreicht, so hätte die Erfahrung nicht phantastischer sein können. Ich starrte durch das Fenster in die Sonne, und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Kopf. Es war, als ob die mir bekannte Realität plötzlich dünn wie Seidenpapier geworden wäre, denn inmitten der Flammen sah ich ein seltsames Gesicht aufleuchten, als hätten sich sämtliche Poren seiner Haut in Licht verwandelt. Es strahlte eine weiße Licht-Aura aus und zog mich an. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Schwingungen geriet. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich in zwei Teile gespalten, denn ich spürte, wie ich an meinem Arbeitsplatz saß und die Ideen in die Tasten hämmerte, die mir durch den Kopf blitzten, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als ob ich es selbst war, der die Geschichte erlebte und aus dem Fenster fiel. Ich erkannte deutlich die luziden Wände meiner Geschichte als Spiegelrahmen einer mir unsichtbaren Welt, in der ich einem Engel begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Sanft faßte er mich an der Hand und sprach: «Was weißt du von der Wirklichkeit, die dich umgibt?» Eine himmlische Gestalt in einem dunkelblauen Mantel stand vor mir und blickte mich unter ihrer Kapuze freundlich an. Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern.
«Genug, um in der Welt überleben zu können», stammelte ich sichtlich aufgeregt.
«Das ist nicht genug, denn du bist hier nicht in der Zeit, die sich durch den Raum bewegt, sondern du bist der Raum, der durch sich selbst stürzt, weil er sich vor sich selbst verschließt. Ich bin der Schlüssel, der dich öffnet und der dir Zugang zur Wahrnehmung ungeahnter Perspektiven verschafft. Denn du bist die Tür, die dir als Eingang dient, die aber nicht nur an einem einzigen Punkt im Universum existiert, sondern die in verschiedene Bewußtseinsebenen hineingekrümmt ist … Gemeinsam können wir alle Ebenen durchwachsen. Schau hin!»
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