Gustav Meyrink: Der Engel vom westlichen Fenster
(Die erste Schau im magischen Spiegel)
Deutung
1. John Dee (Das Bild des Ich)
Die erste Karte zeigt das aus seiner inneren Mitte heraus handelnde Ich, das sich in seinen eigenen Handlungen wahrnimmt und konstituiert.
2. Jane (Das Bild des Du)
Die zweite Karte umschreibt die unbewusste Anziehung durch den aus dir selbst entfernten, andersgeschlechtlichen Teil deiner selbst 1, den du nach außen projizierst. Denn es ist nicht das Weib, das John Dee in Jane liebte, sondern das Weibliche in sich selbst: Daher repräsentiert diese Karte weniger den anderen, den man zu erobern hofft, als den verlorenen Teil in sich selbst, den man sich im anderen wieder zurückerobern will.
3. Edward Kelly (Das Bild des Es)
Hier begegnest du dem Schatten oder deinem schwarzen inneren Gespenst, das du nicht gern in dir selbst wahrhaben willst. Nur Menschen, die ihrem eigenen Schatten schon begegnet sind, fühlen sich in der Nähe des Teufels geborgen. Er verkörpert ein Stück Wahrheit, das in der Tiefe unserer Instinktnatur verwurzelt ist.
4. Rabbi Löw (Das Bild des Über-Ichs)
Die vierte Karte entspricht dem unerschütterlichen Streben nach Befreiung von triebhaften Zwängen. Es lässt dich unentwegt nach jener reinen Form von Liebe suchen, die letztlich nur im Göttlichen zu finden ist. Diese Karte zeigt dir gleichzeitig die Maske, hinter der sich deine verdrängten Triebe und Instinkte verbergen. Es ist das bewusste Selbst, das hinter der Maske des „Übervaters“ den Bösen (Karte 3) bekämpft, den er zuerst ins Unrecht setzt, damit er ihn danach zu Recht zerstören kann.
5. Der Grüne Engel (Die Finsternis)
Auf der Suche nach einem Modell allumfassender Liebe begegnest du hier, ungeachtet deiner persönlichen Vorstellungen, den vielgestaltigen Ur-Perversionen im Reich der Triebe, die sich nur zu oft hinter schönen Masken verbergen. Der Engel ist der Spiegel, in dem dir das Tiefgründige begegnet und worin du das Ungeheuer erblickst, in dem du dich jetzt selbst erkennst!
III Der Seelenspiegel
Fragestellung
Der Seelenspiegel ist der passende Legeweg, wenn ich zweierlei wissen möchte:
Erstens, was ich an eigenen inneren Bildern in eine Sache hineininszeniere (Legemethode I), und
Zweitens, was an äußeren Erlebnissen daraus entsteht (Legemethode II). Es geht also darum, zu erkennen, in welcher Gestalt sich das Evozierte aus dem Gespiegelten heraus verwirklicht bzw. in welchen Erscheinungen mir meine inneren Bilder im äußeren Leben begegnen.
Diese Legemethode kombiniert die Legewege I und II.
Die erste Karte repräsentiert das Bewusstsein des eigenen Selbst (Der Große Geist). Sie ist der Ausdruck, mit dem das Subjekt sich als solches bezeichnet und erkennt: also deine bewusste Identität, die du zurzeit ausfüllst.
Die zweite Karte zeigt dir das Ziel deiner Identität (John Dee); also die innere Absicht, die dem Beschreiten des Weges zugrunde liegt, der dich zu deiner bewussten Identität führt.
Die dritte Karte beschreibt die Herausforderung durch die Begegnung mit der Welt (Gehörnter Gott): also durch das, was dir von außen als „Umwelt“ entgegentritt.
Die vierte Karte symbolisiert deine aus dir selbst entfernte und nach außen projizierte Andersgeschlechtlichkeit (Jane), die sich im Bild des Partners reflektiert. 2
Die fünfte Karte beschreibt – im Unterschied zum bewussten Ich – die Tiefenschichten der Persönlichkeit (Teufel): also diejenige Schicht des Seelischen, die das Unbewusste, die Affekte, Gefühle, Triebe und Strebungen umfasst (endothymer Grund).
Die sechste Karte zeigt die Umstände oder die Person, durch die das Böse im Leben auftaucht (Edward Kelley), das Kleid, in dem das Es in Erscheinung tritt.
Diese Karte verkörpert das Über-Ich im Sinne Freuds, also jene dem Ich übergeordnete Steuerinstanz (Das Verborgene), welche die Gebote der Gesellschaft als gültig und verbindlich übernimmt und somit die moralischen Vorschriften und opportunistischen Strebungen unseres Seelenlebens umfasst.
8. Das Bild des Über-Ichs
In der achten Karte begegnet dir der von einem Streben nach besseren Lösungen beseelte „Über-Vater“ (Rabbi Löw), der die Barrieren der Wahrnehmung durchbricht und in die transzendenten Räume entgrenzter Bewusstseinsebenen hineinwächst. Als wertende, d.h. dem Gewissen entsprechende Instanz verlangt er meistens Verzichte auf die Antriebsziele des Es (Karten 5 und 6) und stellt sich auch in Gegensatz zum Ich (Karte 1). In unbewältigten Konfliktsituationen kann dies zu Verdrängungen der für das Über-Ich unannehmbaren Wünsche oder Affekte führen.
9. Die Finsternis (Der Schatten des Lichts)
Die neunte Karte reflektiert uns die aus dem endothymen Grund (Karte 5) aufsteigenden, zielgerichteten, oft auch gefühlsgebundenen Strömungen, die als „Triebfedern“ die Dynamik des Erlebens, Wollens und Handelns bestimmen. Auf der archetypischen Ebene ist dies die große Unbekannte oder der dunkle Archetypus (Der Grüne Engel), der dich anzieht und dem du willenlos ausgeliefert bist, wenn du ihm in die Hände gerätst.
10. Das Licht (Der Schatten der Finsternis)
Die letzte Karte zeigt das geistige Erkennen, durch das sich der menschliche Geist über sich selbst erhebt und damit seiner Doppelköpfigkeit bewusst werden kann (Baphomet), indem er sich gleichermaßen innerhalb und außerhalb seiner eigenen Denkformen erkennt. Er ist der Janusköpfige, der seine Sicht nach innen mit dem Blick nach außen im Doppelblick vereint: Ich bin der Teufel, der die Polaritäten überwunden hat, indem er Gott ins Auge blickte und dahinter nur sich selbst erkannte, dem der Teufel von außen ins Auge sah! 3
IV Der Schöpfungsknall
Fragestellung
Jede schöpferische Idee, jeder Geistesblitz ist eine miniaturisierte Wiederholung des „Urknalls“, mit dem die Existenz unseres Universums begann. Denn auch hinter dem kosmischen Ringen steckt nichts anderes als die universelle Relevanz der immer gleichen Frage: „Was ist der Sinn?“ Daher ist dies die Legeform für die Frage, was einer Idee, die mir kommt, oder einem Einfall, den ich habe, an kreativem Potential zugrunde liegt: „Wohin entwickelt sich die Sache? Was ist das Ziel?“
Allegorie (Der Schöpfungsanfang)
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und leer, Finsternis schwebte über den Wassern ... Das ist der Beginn der biblischen Genesis, die mit der Urknall-Theorie der modernen Physik, wenn man so will, eine gewisse Bestätigung erfährt. Letzterer zufolge begann die Existenz des Universums mit dem Urknall, dem „Big Bang“. Vorher war der Geist der Materie gleichsam nur in homöopathischer Dosis vorhanden, denn die Materie war in einem unendlich kleinen Raum bei unendlich hoher Dichte zusammengepresst. Jahwes Schöpfungstat, die das Seiende aus dem Nichts gebar („creatio ex nihilo“), entwickelte sich nach dem Urknall so ungeheuer schnell, dass sie während der ersten, allerkleinsten Sekundenbruchteile die Chaos-, Quark- und Hadron-Ära, und einen Lidschlag später in derselben Frequenz die Lepton- und Strahlungs-Ära durchlief. Erst viele Millionen Jahre später begann die Ära der Materie.
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