Eines Tages war ein Brief von meinem Vater im Briefkasten. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und hatte Schmetterlinge im Bauch. Mein Papa hatte geschrieben, „weiß ich nun endlich, wessen Geistes Kind du bist“. Das ist der einzige Satz, an den ich mich erinnere. Immer wieder klingt er nach, ich sehe noch die schwarze Tinte auf dem weißen Papier und kann noch heute den Schmerz fühlen, der mir dabei die Tränen in die Augen schießen ließ. Meine Mutter tröstete mich, um dann wieder auszuholen und mir davon zu erzählen, wie grausam dieser Mensch zu ihr gewesen war, dass er mich nie wollte, weil ich ein Mädchen war, dass nur Jungs etwas für ihn zählten. Sie erzählte stundenlang, immer und immer wieder. Mein Gefühl starb dabei. Ich durfte nicht traurig sein. Bis heute weiß ich nicht, was in diesem Brief an meinen Vater gestanden haben muss, was ihn so wütend hat werden lassen. Zwischendurch gab es gelegentlich Kontakt zu meinem Vater, der aber immer abbrach, wenn ich mich nicht mehr meldete. Er selbst meldete sich nie. Und ich tat es dann irgendwann auch nicht mehr.“
Tina, 36:
„Ich bin selbst Scheidungskind. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich neun Jahre alt war. Ich habe sehr unter der Abwesenheit meines Vaters gelitten. Ich habe erlebt, dass die wenigsten geschiedenen Väter sich umfassend um ihre Kinder kümmern. Bei einigen meiner Freundinnen habe ich das auch beobachten können. Meistens sind es die Mütter, denen alles überlassen wird.
Vor einiger Zeit befragte ich meinen Vater, warum er sich kaum um mich gekümmert habe. Seine Antwort: „Ich hatte eine neue Familie.“
So oder ähnlich verhält sich auch mein Freund, der Vater meines Sohnes, seit unserer Trennung.
Auf eine Mitverantwortung bei Betreuung und Erziehung lassen sich Männer kaum ein. Auch bei Freunden und Bekannten sehe ich diesen Zustand oft.
Für mich steht das Wohl meines Sohnes im Mittelpunkt. Er liebt seinen Vater bedingungslos. Zurückweisungen schluckt er und leidet. Leider kann man niemanden zur Liebe zwingen. Doch wenn man seinen Kindern täglich in die Augen sieht, ihnen zuhört und mit ihnen ist, merkt man, wie sehr ihnen diese Liebe fehlt. Sie brauchen einfach beide – Mama und Papa. Und jede Geste, jedes Wort, jede Berührung und Zuwendung saugen sie auf. Ich wünschte mir sehr, dass die Väter kämpfen würden, um jede Sekunde mit ihnen.“
Es ist ein großer Verlust für Kinder, deren Väter „abtauchen“ und sich ihrer Verantwortung entziehen, denn Kinder brauchen Mütter und Väter. Der Gesetzgeber hat das erkannt und überträgt im Regelfall beiden Eltern das gemeinsame Sorgerecht, damit sie – trotz gescheiterter Beziehung – gemeinsam zum Wohle des Kindes kooperieren.
Im neuen Kindschaftsrecht ist die gemeinsame elterliche Sorge und Verantwortung verankert, d. h., Väter und Mütter behalten als Eltern das gemeinsame Sorgerecht und auch die gemeinsame Sorgepflicht für ihre Kinder (s. Anhang: „Neufassung des Kindschaftsrechtes“ Seite 139).
Nur dann, wenn Eltern völlig zerstritten sind und um alles prozessieren, wird einem Elternteil das alleinige Sorgerecht übertragen, während der andere Elternteil das Besuchsrecht erhält. Es gibt aber auch Fälle, in denen das gemeinsame Sorgerecht nicht durchführbar ist, weil z. B. der Vater monatelang auf Montage im Ausland arbeitet. Dann wird aus Zweckmäßigkeitsgründen das alleinige Sorgerecht der Mutter übertragen.
Für ein Kind bedeutet es aber auch den schmerzlichen Verlust eines abwesenden Elternteils, wenn ihm dieser durch den anwesenden Elternteil entfremdet wird. Nicht selten versucht der anwesende Elternteil den anderen aus dem Leben des Kindes auszugrenzen und es kommt zur Entwicklung eines PAS-Syndroms („Parental Alienation Syndrome“ – PAS – Elterliches Entfremdungs-Syndrom) beim Kind: Es spaltet seine Eltern in einen geliebten (guten) und einen angeblich gehassten (schlechten, bösen) Elternteil auf.
Bei der Entfremdungsproblematik werden Kinder von einem Elternteil – meistens der Mutter – instrumentalisiert. Solche Mütter versuchen, ihren Ex-Mann zu strafen oder sich an ihm zu rächen. Diese Frauen betrachten ihre Kinder als ihr persönliches Eigentum, über das sie die alleinige Verfügungsgewalt anstreben. Sie programmieren (bewusst oder unbewusst, offen oder getarnt) das Kind gegen den Ex-Partner.
Da sich Kinder normalerweise mit dem Elternteil identifizieren, bei dem sie leben und von diesem abhängig sind, übernehmen sie auch dessen Bedürfnisse und Emotionen. Der ehemals geliebte Vater wird plötzlich abgelehnt, weil die Mutter es so will und weil das Kind nicht riskieren kann, den Zorn oder die Enttäuschung der Mutter auf sich zu ziehen. Meist wird dann ohne Überprüfung der Umgang mit dem Vater für diese Probleme verantwortlich gemacht und nicht die Programmierung durch die Mutter und deren Umgangsboykott. Die gängige Argumentation ist, „Es muss Ruhe einkehren“ oder es wird sogar eine Umgangspause verordnet, in der sich die Entfremdung dann fast automatisch vollzieht. Wenn danach Kontaktprobleme zwischen Vater und Kind entstehen, werden diese wiederum dazu benutzt, den Umgang weiterhin zu vereiteln.
Dazu ein Beispiel:
Claras Eltern sind geschieden. Die Achtjährige lebt bei ihrer Mutter. Obwohl beide Eltern das Sorgerecht haben, bekommt der Vater seine Tochter so gut wie gar nicht mehr zu sehen. Die ersten Monate nach der Scheidung war zunächst alles gut gelaufen. Clara besuchte ihren Vater regelmäßig und kehrte fröhlich von den gemeinsamen Wochenenden zurück. Doch dann fielen ihre Treffen immer häufiger aus: Mal war sie krank, mal auf einer Sportveranstaltung, mal bei einem Kindergeburtstag. Schließlich erfährt der Vater, dass Clara sich weigert, ihn zu besuchen.
Wenn ein Kind seine Bedürfnisse hinsichtlich des abgelehnten Elternteils nicht mehr äußert, bedeutet das nicht, dass es ihn nicht (mehr) lieb hat. Seine Liebe für den Vater oder die Mutter besteht weiter, wird aber verleugnet, um den manipulierenden Elternteil nicht zu verlieren. Auch beim Kind ist Angst ein wesentlicher Faktor für das Entstehen des Syndroms. Dem Kind fehlt die Freiheit, auch den abgelehnten Elternteil lieben zu dürfen. Damit wird dem Kind die Grundvoraussetzung für die eigene gesunde Persönlichkeitsentwicklung entzogen. Der Verlust der zweiten Elternbeziehung hat Identitäts-, Selbstwert-, Bindungs- und Beziehungsprobleme zur Folge.
Es ist Fakt, dass das Engagement vieler Väter für ihre Kinder nach der Scheidung kontinuierlich abnimmt. Ein Grund für den Rückzug der Väter ist auch, dass sie den Kontakt zu den Kindern reduzieren, um Streit mit der geschiedenen Frau zu vermeiden.
Viele Kinder entwickeln Mitleid mit dem getrennten Vater und verbünden sich mit ihm, wodurch sie in einen Loyalitätskonflikt geraten können. Andererseits verwöhnen Scheidungsväter oft aus Schuldgefühlen ihre Kinder und setzen ihnen keine klaren Grenzen, wo diese gefragt wären.
Nach einer Scheidung zerfällt das einstige familiäre Gefüge. Die Rollen müssen neu verteilt und besetzt werden. Geschiedene Eltern versuchen aus Schuldgefühlen heraus nach der Trennung eine besonders intensive Bindung zu den Kindern herzustellen, indem sie den Kindern ein besonderes, partnerschaftliches Verhältnis anbieten oder sie fallen in das andere Extrem, indem sie ihre Kinder überbehüten.
Psychologen meinen, dass der Tod eines Elternteils für die Entwicklung eines Kindes nicht so schlimm sei wie eine Scheidung. Echte Halbwaisen seien in der Lage, sich mit dem unwiderruflichen Schicksalsschlag abzufinden und Gegenkräfte zu entwickeln, Scheidungskinder hingegen hätten Schwierigkeiten, zu begreifen, dass das geliebte Wesen noch existiert, aber den Kontakt abbricht oder stark reduziert. Von Bedeutung ist also weniger, dass ein Elternteil fehlt, sondern warum er fehlt.
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