Für einen langen Augenblick ist es totenstill im Raum. Peter schaut ohne jedes Verstehen zwischen diesen beiden Menschen hin und her. In seinem Gehirn hallen die Worte nach, ohne dass er sie begreift. Eine Welt stürzt in ihm zusammen.
Er steht auf und geht mit unsicheren Schritten zu der Bücherwand hinüber. Da steht er, mit auf dem Rücken verschränkten Armen gegen die Bücherreihen gestützt. Er starrt wortlos seine Mutter an.
Da fängt Karl Harder leise an zu sprechen.
„Deine Mutter und Uwe Breuer haben sich innerlich aneinander aufgerieben. Deine Mutter hat alles Erdenkliche unternommen, das Auseinanderleben zu verhindern. Sie waren sich auch nach langer Quälerei wieder nähergekommen. Aber dann hat ein Unfall, bei dem ein Mensch zu Tode kam, ohne dass es Breuers Schuld war, ihn aus der Bahn geworfen. Er kam gar nicht mehr zu deiner Mutter zurück, sondern hat die Scheidung eingereicht. Und deine Mutter hatte keine Gelegenheit mehr, ihm zu sagen, dass du unterwegs warst.“
„Du hast es ihm verschwiegen, Mutter?“
„Peter“, sie unterbricht ihr verzweifeltes Weinen und räuspert sich, „selbst wenn ich gewusst hätte, wo ich ihn finden könnte, in mir war alles ausgelöscht, hätte ich ihn zwingen sollen, bei mir zu bleiben, wenn er mich nicht mehr liebt?“
Sie schluchzt laut auf und presst das Taschentuch gegen ihren Mund.
„Schau, Peter, deine Mutter hat mir erst sehr viel später gesagt, dass Uwe Breuer nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hat. Ich hatte Inge schon immer geliebt, aber es bei mir behalten. Als ich sie dann bat, mich zu heiraten, da habe ich versprechen müssen, du sollst spätestens an deinem einundzwanzigsten Geburtstag erfahren, wer dein leiblicher Vater ist. Und ich habe auch versprochen, dass ich dem Kind, das sie erwartete, ein wirklicher Vater sein werde. Und, bei Gott, ich habe mein Bestes versucht.“
Inge Harder hat gerötete Augen, als sie jetzt zu Peter aufschaut. Sie sitzt an dem kleinen Sekretär am Fenster des Wohnzimmers, aus dem sie voller schwerer Gedanken auf die gepflegten Rosenbeete hinaussah, bevor Peter eben hereinkam. Man sieht ihr an, wie sehr sie unter dem Gespräch gelitten hat.
„Komm Junge“, sagt sie mit resignierter Stimme und in einem Ton, als wüsste sie, dass eine schlechte Nachricht auf sie warte.
„Wir setzen uns dort hinüber“, auf die Sofaecke deutend. Sie setzen sich und sie nimmt seine beiden Hände in die ihren.
„Ich weiß nicht, ob wir das richtig gemacht haben, es dir erst jetzt zu sagen. Wir wollten, dass du eine unbeschwerte Jugend hast.“
„Die habe ich gehabt, und das werde ich dir und Vater auch nicht vergessen. Aber seit gestern Abend ist halt vieles anders, nein!“
Er hindert sie daran, ihre Hände von den seinen zu lösen.
„Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich mache euch ja gar keine Vorwürfe. Mir ist heute Nacht klargeworden, dass er eine Menge Schuld an dem allem trägt, weil er einfach abgehauen ist.“
Er braucht einen Augenblick, um sich zu fassen.
„Ach Gott, wer kann nach so langer Zeit noch wissen, wer Schuld hatte“, sagt sie ruhig.
„Vielleicht war einfach die Zeit gegen uns. Ich war ein junges Ding, als er plötzlich heiraten wollte. Zu gründlichem Prüfen hatten wir beide keine Zeit. Sicher hat bei ihm eine Rolle gespielt, dass er sah, dass der Krieg verloren war. Er wollte jemand haben, zu dem er zurückkehren könnte. Seinem Elternhaus war er entfremdet. Ich war von ihm begeistert, er sah ja auch toll aus.“
Sie lächelt. „Aber dann wurde er gleich an die Front gerufen und geriet wenig später in Gefangenschaft. Und dann brach hier alles zusammen. Die paar Briefe, die über das Rote Kreuz aus Kanada kamen, was besagten die schon? Auf jeden Fall stand er 1948 plötzlich vor meiner Tür hier in Düsseldorf. Aber festgewachsen ist er hier nie. Er sprach öfters vom Auswandern nach Kanada. Er hatte einfach sein Herz nicht hier. Und geschäftlich ging es für ihn auch nicht vorwärts. Ich hatte meine gute Stellung bei deinem Vater. Ich meine bei Karl. Wir haben uns mehr und mehr auseinander gelebt. Er zog dann aus unserer Wohnung aus. Nein, da war keine andere Frau. Ich war einfach sehr viel bürgerlicher als er. Aber er wäre beinahe zu mir zurückgekommen, wir hatten uns versöhnt, und als unsere zweite Hochzeit gefeiert wurde, passierte der Unfall! Er ging fort und hinterließ mir einen Brief, in dem er alle Schuld des Zerwürfnisses auf sich nahm, er wolle mich nicht an sich fesseln. Du warst schon unterwegs, obgleich ich es erst ein paar Wochen später merkte. Es hat mich fast den Verstand gekostet.“
Peter hatte seine Mutter mit keinem Wort unterbrochen. Er drückt ihre Hände, um sie jetzt loszulassen und langsam aufzustehen.
„Mir ist so eigenartig zumute, als könnte ich diesen Mann verstehen. Ich glaube, ich habe das Foto, das du mir gestern Abend gegeben hast, ein paar Stunden lang angesehen. Er ist mir auf eine seltsame Art vertraut geworden.“
Er unterbricht sich selbst, starrt vor sich hin, um sich dann zu seiner Mutter umzudrehen.
„Mutter, ich weiß, dass ich diesen Mann, der mein Vater ist und von dem ich bis gestern Abend nichts wusste, finden muss!“
„Aber er hat nie mehr etwas von sich hören lassen!“, antwortet sie mit einem bangen Gesichtsausdruck.
„Dann muss ich ihn eben suchen. Ich weiß, dass das nicht leicht sein wird. In Amerika und Kanada gibt es keine polizeiliche Meldepflicht wie hier. Aber hattest du nicht den Namen des Farmers, bei dem er während des Krieges gearbeitet hat?“
„Ja, der Name muss irgendwo sein, aber ich hatte keine Adresse. Ich weiß nur, dass es irgendwo in einer Provinz im Westen war, ich glaube sie heißt Saskatchewan oder so. Aber, Peter, das war vor mehr als fünfunddreißig Jahren. Ob es diesen Farmer überhaupt noch gibt?“
Peter bekommt einen entschlossenen Gesichtsausdruck.
„Ja, es wird viel Zeit kosten, in so einem Land einen Menschen zu finden. Aber die Zeit werde ich mir nehmen.“
Er dreht sich wieder zu ihr um.
„Ich habe heute Nacht einen Entschluss gefasst, Mutter. Ich werde nicht Betriebswirtschaft studieren. Nein, bitte, unterbrich mich jetzt nicht! Und ich werde auch Vaters Betrieb nicht übernehmen!“
„Um Gottes Willen, Peter, tu ihm das nicht an!“ sagt sie mit fahl gewordenem Gesicht.
„Verstehe mich nicht falsch, ich liebe ihn, wie ich dich liebe. Aber eigentlich wollte ich das alles nie so richtig, mich, wie ihr das alles genannt habt, in ein gemachtes Nest setzen! Und ich habe immer gesagt, wenn es nach mir geht, möchte ich Journalist werden. Die Welt ist so aufregend und interessant, das kann man in einem Büro wie dem von Vater ja gar nicht spüren, da geht es nur um Geld.“
„Aber Geld macht frei, sagt man“, wirft Inge Harder ein.
„Wirklich? Ich sehe immer nur, wie es euch alle in den Bann schlägt und versklavt. Nein, Mutter, ich habe mich heute Nacht entschlossen, Journalist zu werden! Da gibt es in München die Deutsche Journalistenschule. Dort werde ich mich bewerben. Und wenn ich auf eigenen Beinen stehen kann, werde ich nach Kanada gehen und den Mann suchen, der mein Vater ist!“
Uwe Breuer schiebt den Gashebel voll hinein, als er mit dem Wasserflugzeug in niedriger Höhe über das Motel donnert. Er lacht, als er Mabel dort unten aus dem Coffee Shop stürzen sieht. Sie winkt herauf, als er in einer großen Kurve zum See hinüber gleitet und das Gas zum Landeanflug zurücknimmt.
Mabel Benson springt entschlossen in den offenen Jeep und fährt wie eine Besessene zum Landesteg hinunter, eine dichte Staubwolke aufwirbelnd. Sie mag die Vierzig überschritten haben. Schlank, aber nicht mager, mit braunem Haar, macht sie mit ihren entschiedenen Bewegungen am Steuer des spritzigen Geländewagens einen zupackenden Eindruck. Ihre Züge sind ebenmäßig, wenngleich ihr Gesicht durch eine tiefe Stirnfalte beherrscht wird. Modisch kann man ihr T-Shirt und die ziemlich groben Jeans nicht nennen. Aber hier oben im Norden sind Modepuppen ohnehin nicht gefragt.
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