Glander war weit davon entfernt, sich von dem zur Schau gestellten Snobismus des Chirurgen beeindrucken zu lassen. Menschen wie Berthold lebten in ihrer eigenen Welt, die von Statusgehabe, Geld und dem Umgang mit Gleichgesinnten bestimmt war. Die Realität gewöhnlicher Menschen konnten sie gar nicht mehr beurteilen, maßten sich aber stets eine Meinung darüber an. Glander beschloss, dem Professor ein wenig den Tag zu versauen. »Doktor Berthold, Ihre Frau hat mir von Ihrem, sagen wir mal, eher unterkühlten Verhältnis zueinander erzählt. Warum lassen Sie sich nicht scheiden?«
Berthold schwieg und blickte durch das große Fenster hinaus in den Garten. Schwere, dunkle Wolken hingen drohend am Himmel, und die Baumwipfel bogen sich in dem starken Wind, der aufgekommen war. Der Professor wandte sich wieder Glander zu. »Herr Glander, wissen Sie, was ich wert bin? Ich leite seit fast zwanzig Jahren als Chefarzt die Neurochirurgie, ich bin ein international begehrter Redner und Dozent. Letzte Woche war ich in Shanghai, um eine komplizierte Operation durchzuführen. Meine Eltern waren wohlhabende Leute, und ich habe unser Vermögen stetig vermehrt. Seit jeher gehört meiner Familie dieses Haus, ich bin hier aufgewachsen. Außerdem besitze ich weitere Mietshäuser in der ganzen Stadt. Maria lebte mit ihrer Familie in einem Slum in Manila, bevor ihre große Schwester als Katalogbraut nach Deutschland kam und ihre zwölf Jahre jüngere Schwester kurz darauf nachholte. Marias Schwager ermöglichte ihr eine Ausbildung an der Hanns-Eisler-Schule, sie erlernte dort das Cellospiel. Als ich sie auf einem Konzert kennenlernte, verlor ich meinen Verstand vor Lust und Liebe. Sie hätten sie hören müssen! Wir heirateten an ihrem achtzehnten Geburtstag. Einen Ehevertrag haben wir nicht, und ich bin nicht gewillt, ihr die Hälfte meines Vermögens zu überlassen – dafür, dass sie mich so hintergangen und der Lächerlichkeit preisgegeben hat.«
»Kümmert es Sie gar nicht, dass Tara in solch unterkühlten Verhältnissen aufwachsen muss?«
Berthold schnaubte verächtlich. »Ach, kommen Sie mir doch nicht so, Glander! Tara ist Marias Kind. Ich gebe beiden ein Dach über dem Kopf und ausreichend Spielgeld für Hobbys und sonstige Freizeitaktivitäten. Im Gegenzug ist Maria die schöne Frau an meiner Seite und Tara die hochbegabte Tochter, die das Bild abrundet. Es ist ein Arrangement, mit dem alle sehr zufrieden sein können.«
Glander fand das eher deprimierend. Auch wenn immer zwei zum Tangotanzen gehörten, wie Lea es ausdrückte. »Herr Berthold, haben Sie Affären mit anderen Frauen?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an, Herr Glander!«
»Sie irren sich. Eine unzufriedene Geliebte, die auf eine Heirat spekuliert, würde ich ziemlich weit oben auf die Liste meiner Verdächtigen setzen. Gleich hinter die abgelegte Liebhaberin, die auf Rache sinnt. Wo waren Sie gestern Abend zwischen neun Uhr und Mitternacht?«
Der Arzt schnappte nach Luft. »Worauf wollen Sie mit dieser Frage hinaus?«
»Ich will auf gar nichts hinaus, ich stelle Alibis für die Tatzeit fest. Sie sind Ihrer Frau und deren Tochter nicht sehr wohlgesinnt. Ihre Frau ist Ihnen seit Jahren ein Dorn im Auge und bedeutet ein Leck in Ihrem Geldtank. Es mag Ihnen nicht passen, aber so wie ich die Sache sehe, haben Sie ein wirklich bestechendes Motiv.«
»Nun, dann schlage ich vor, Sie ändern ganz schnell Ihre Perspektive, wenn Sie keine Verleumdungsklage am Hals haben wollen, Herr Glander.«
»Herr Berthold, wenn Ihr Anwalt auch nur ein bisschen was taugt, wird er Ihnen von einem solchen Schritt abraten. Wie sieht denn das aus? Der piekfeine Professor, dem die Entführung seiner Tochter egal ist …«
Auf Bertholds Hals machten sich rote Flecke breit.
Hab ich dich, du bornierter Sack!, dachte Glander.
Berthold hatte sich wieder gefasst und räusperte sich. »Ich war gestern Abend im Virchow-Klinikum und habe eine Notoperation geleitet. Das Team wird Ihnen das jederzeit bestätigen. Und ja, ich habe schon seit vielen Jahren eine Affäre, aber die Dame ist ebenfalls verheiratet und stellt keinerlei Ansprüche.«
»Ich brauche ihren Namen und eine Telefonnummer.«
»Auf keinen Fall!«
»Dann bitten Sie die Dame, sich umgehend mit mir in Verbindung zu setzen! Damit ist mein Entgegenkommen auch schon erschöpft. Wenn ich bis morgen Mittag nichts von ihr höre, erfährt die Presse von Ihren wahren familiären Verhältnissen. Selbstverständlich erst, nachdem Tara in Sicherheit ist.«
»Das wagen Sie nicht!«
Glander sah den Mann nachsichtig lächelnd an. »Möchten Sie es darauf ankommen lassen? Morgen Mittag zwölf Uhr, Professor!«
Der Arzt nickte und verließ das Wohnzimmer. Fast wäre er mit seiner Frau zusammengestoßen, die durch die Tür kam. »Einen feinen Ermittler hast du da an Land gezogen, Saya-Maria. Einmal Gosse, immer Gosse! Ich werde bis auf weiteres in der Klinik übernachten. Wenn Tara gefunden ist …«, er machte eine hässliche Pause, welche die Worte »tot oder lebendig« zu beinhalten schien, »… werde ich die Stelle in Paris antreten.«
Maria Berthold neigte den Kopf in die Richtung ihres Mannes.
Glander wandte seinen Blick von dem Ehepaar ab. In der Geste dieser schönen Frau lag so viel Würde, dass er sich für den Chirurgen fremdschämte.
Über dem Haus kündigte ein leises Grollen das bevorstehende Gewitter an.
Merve hatte Glander ihr Gespräch mit Lea umrissen und ihm deren Verbindung zu Tara Berthold erklärt. Danach hatten sie ihre nächsten Schritte geplant. Glander hatte keine weiteren Nachbarn angetroffen. Er würde es später erneut versuchen.
Maria Berthold hatte darauf bestanden, dass sie auch die Videoüberwachung installierten. Merve hatte verdeckte Kameras an den Eingängen und an strategischen Plätzen im Treppenhaus angebracht und war dabei, ihren Laptop entsprechend einzurichten. Selbst wenn einem der Mieter die Kameras auffielen, erwartete sie nicht, dass sich jemand beschwerte.
Glander nahm wieder im Wohnzimmer Platz und sah sich die Kontaktliste und den Wochenplan des Mädchens an. Da Tara ihrem Entführer vermutlich im Hausflur begegnet war, musste jemand den beiden Mädchen ins Haus gefolgt sein. Vielleicht hatte er die Tür blockiert, um kurz darauf hineinschlüpfen zu können. Auch war der hintere Eingang zu den Kellerräumen laut Frau Berthold nie abgeschlossen, da das Reinigungspersonal und der Gärtner ständigen Zugang brauchten und Prof. Berthold ihnen keine Schlüssel überlassen wollte. Hier hätte also ebenfalls jemand ins Haus gelangen können. Oder, und der Gedanke schmeckte Glander gar nicht, jemand war bereits im Haus gewesen, als Tara und Louise aus dem Park gekommen waren. Jemand, der Taras Wege kannte oder der – das war ebenfalls eine Möglichkeit – sogar im Haus wohnte. Glander schloss Maria Berthold zunächst aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Sie müsste eine wirklich gute Schauspielerin sein, wenn die Angst um ihr Kind nicht echt wäre. Dem Professor traute er nicht über den Weg. Sie würden seine Finanzen genau durchleuchten. Verwandte hatten die Bertholds nicht. Prof. Berthold war Einzelkind, und Maria Bertholds Schwester war mit ihrem Mann vor ein paar Jahren nach New York gezogen.
Glander ging die Nachbarn durch: das Ehepaar Obentraut, die Chefsekretärin Anneke Gruhner, Taras Lehrer Gerd Lemke und Louises Vater Jürgen Schneider. Louises Schilderung des Abends würde er in jedem Fall überprüfen, sie war bislang die letzte Person, die Tara vor der Entführung gesehen hatte. Er würde sich außerdem die Mitglieder der Theatergruppe vornehmen, mit denen Tara und Louise am Pavillon gewesen waren. Vielleicht hatten die Jungs in ihren betrunkenen Köpfen einen Schabernack ausgeheckt, der außer Kontrolle geraten war. Glander wollte auch mit dem Vertrauenslehrer der Schule über das Mädchen sprechen und nachfragen, ob es auffällige Schüler gab.
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