Joy liebte von Anfang an auch Magdalenas Familie und umgekehrt. Es war ein Glücksfall – auch für Joys Mutter. Wie oft konnte sie das Kind sorglos bei Dornbachs abgeben, während sie Sonderschichten übernahm und sich ständig weiterbildete. Joy liebte sie über alles – sie war und blieb ihre Mutter, ihre engste Bezugsperson. Clara gab sich auch die größte Mühe, Joy ein schönes, bequemes und glückliches Leben zu bieten. Wann immer es möglich war, unternahmen sie etwas. Nur die Mama selbst war immer sehr ernst und so richtig Spaß konnte Joy, wenn sie ganz ehrlich war, nur mit Dornbachs haben. Vor allem gab es kaum Tage, an denen sie Joy nicht eindringlich vor Männern warnte. Ihre schlimmen Erfahrungen gab sie unermüdlich weiter. Joy hörte zu – aber innerlich schien das Gesagte abzuprallen. Sie beobachtete Jens, Jonas und auch die Jungen in der Schule und im Sportverein ganz genau. Aber sie konnte nichts extrem Böses an ihnen feststellen. Da fand sie so manche Zicke aus ihrem Umfeld unsympathischer und böser. Natürlich gab es auch Blödmänner unter den Jungen, aber nicht mehr und keinesfalls schlimmer als unter den weiblichen Mitmenschen.
Clara stichelte auch gegen die Dornbachs regelmäßig – sicher aus Eifersucht. Und so lernte Joy mit der Zeit, ihr so gut wie nichts mehr zu erzählen und den Eindruck zu erwecken, dass sie dort sein müsse, während die Mama arbeitete. Das zeigte Wirkung. Mamas Hetzattacken ließen deutlich nach.
Dann aber kam Joy in ein Alter, in dem sie allein zu Hause bleiben konnte. Sie wollte aber weiterhin immer zu Dornbachs und bei deren Unternehmungen dabei sein. Das wiederum setzte den Hetzmechanismus wieder in Gang. Es war manchmal unerträglich. Aber Joy ließ sich das tolle Lebensgefühl bei und mit den Dornbachs nicht vermiesen. Sie genoss jede einzelne Minute. Natürlich gab es auch dort hin und wieder Ärger und Probleme, aber hier lernte Joy, wie man Dinge ausdiskutierte und dass man einen guten Kompromiss für alle finden konnte.
Als ernsthaftes, fast die Freundschaft zerstörendes Problem erwies sich die Liebe. Magdalena und Joy hatten sich, wie es sich für die beiden gehörte, in denselben Jungen verliebt. Aber Lars Jörgensens war unsterblich in Joy verliebt und nach ein paar schwierigen Wochen beschloss Magdalena, dass die Freundschaft mit Joy wichtiger war als der Blödmann.
Von nun an konnte Joy die Liebe richtig genießen. Sie schwebte auf Wolke sieben. Aber ihre Mutter durfte nichts davon erfahren, auf gar keinen Fall! Sie würde dann keine Ruhe mehr geben. Rund um die Uhr würde sie Joy klarmachen, dass sie sich auf den Tag einstellen musste, an dem Lars sie bitterlich enttäuschen würde. Oh, sie wusste doch gar nicht, worauf sie ihr Leben lang schon verzichtete. Und wenn Lars sie tatsächlich verletzen sollte, konnte ihr die wunderschöne Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, keiner wegnehmen. Außerdem hatten andere Mütter auch schöne Söhne …
So glücklich und perfekt war Joys Leben vor der schrecklichen Vergewaltigung gewesen. Die paar Minuten hatten ihr ganzes Leben, Denken und Fühlen auf den Kopf gestellt. Es passte nichts mehr! Die von ihrer Mutter über Jahre hinweg eingetrichterten Sätze, die sie irgendwo in ihrem Kopf in einer geheimen Ecke verstaut hatte, krochen wie Schlangen langsam, aber stetig in den Vordergrund ihres Denkens. „Männer sind alle Schweine! Männer sind alle Schweine! Männer sind alle Schweine!“, hämmerte es in ihrem Kopf pausenlos immer lauter und lauter. Sie hatte recht – Mama hatte ja so recht! Sie fühlte sich so schmutzig, so benutzt, so enttäuscht! Dieser Mann, den sie in Gedanken immer „Papa“ genannt hatte, hatte sie tatsächlich vergewaltigt. Er hatte ihr Leben innerhalb von Minuten zerstört – er hatte sie zerstört. Sie konnte es nicht glauben. Wie kann ein Mensch sich so lange, so gut verstellen? Sie sah Jens’ Gesicht deutlich vor sich – sein warmes und so fröhliches, mitreißendes Lachen verwandelte sich vor ihren Augen in ein dreckiges, böses, verzerrtes und vor allem spöttisches Lachen. „Jetzt, jetzt habe ich dich wirklich vergewaltigt!“ Daraus konnte sie ja nur schließen, dass er sie in Gedanken schon tausendmal vergewaltigt hatte. Wie widerlich, er hatte sie in Gedanken ausgezogen, während sie zusammen mit der Familie zu Abend aßen oder einen lustigen Spieleabend verbrachten oder sich zusammen einen Film anschauten oder, oder! In wie vielen Situationen hatte er gelacht und den fröhlichen Papa gegeben und sie währenddessen in Gedanken vergewaltigt?!
Joys Hass wuchs unbeschreiblich mit jedem Tag, der verging. Die Worte ihrer Mutter wurden immer bedeutungsvoller und auch die für sie damals ungerechtfertigten Vorwürfe gegen den Rest der Familie Dornbach brachten sie in der jetzigen Situation dazu, darüber nachzudenken. War Magdalena nicht wirklich ein verzogenes, arrogantes, egoistisches Wesen? Für Joy war sie immer nur selbstbewusst gewesen, dagegen konnte man doch nichts sagen.
Celine wollte nur so viele Kinder, weil sie keinen Bock auf Arbeit hatte! Bis vor Kurzem war Celine für Joy der Inbegriff der perfekten Mutter gewesen. Ihre Erziehung bestand aus der genau richtigen Portionierung von Strenge, Liebe, Nachsichtigkeit, Verständnis, Mitgefühl, Konsequenz und Nachhaltigkeit.
Oma Margot war eine oberflächliche Witzfigur, für die das ganze Leben eine Party war. Für Joy war sie die liebenswerteste Omi gewesen, die man sich nur vorstellen konnte. Margot zeigte immer großes Interesse an ihrem Leben. Sie wollte immer alle Einzelheiten wissen – Schule? Freunde? Gefühle? Sorgen? Einfach alles! Für Schulprojekte lieferte sie immer die besten Ideen. Sie war unglaublich kreativ. Ja, sie machte alles mit Humor und mischte allem Spaß bei … Aber kann jemand, der so viel Anteilnahme zeigt, einfach nur oberflächlich sein?
Jonas hatte einen bösen Blick – das hatte Clara gleich erkannt. Joy fand, dass Jonas einfach ein kleiner, niedlicher Streber mit etwas zu wenig Humor war. Er war der Dornbach, der den Finger am häufigsten erhob und zur Vernunft mahnte, wenn wieder einmal alle zu ausgelassen wurden.
Marilena war für Clara ein unerzogenes, freches Ding, mit dem sie noch ihr blaues Wunder erleben würden. Für Joy war Marilena die kleine, kesse, nervende Schwester, die nur Quatsch im Kopf hatte.
Aber jetzt, da sie so einsam und verzweifelt vor der Hütte saß und über alle Dornbachs nachdachte, musste sie ihrer Mutter recht geben. Die Meinung zu jedem Einzelnen tendierte jetzt mehr und mehr in Richtung der Aussagen ihrer Mutter. Was passierte da gerade in ihrem Kopf? Warum war all das Zeug, das ihre Mutter ihr über Jahre hinweg immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragen hatte, so präsent und plötzlich so wahr? Es hatte mehr Gewicht als die vielen schönen Jahre mit Dornbachs. Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit seine Meinung so radikal ändern? Dass sie Jens verfluchte, war vollkommen klar! Aber dass sie die anderen Dornbachs plötzlich ebenfalls verachtete, sogar zu hassen begann, das war für sie nicht nachvollziehbar. Aber es waren Gefühle, die sie überkamen, und diesen Gefühlen war mit Vernunft nicht beizukommen. Magdalena war arrogant, Jonas hatte einen bösen Blick, Marilena war frech und ungezogen, Omi – nein, Margot war oberflächlich und Celine war faul und lag ihrem Mann auf der Tasche! Ja, so war das und nicht anders! Joy hatte auch immer im Haushalt geholfen, die Hasenställe ausgemistet und allen Kindern jahrelang kostenlosen Nachhilfeunterricht gegeben. Wenn die Dornbachkinder etwas nicht machen wollten, übernahm sie es freiwillig. Wenn sie so darüber nachdachte, hatten sie sie ganz schön ausgenutzt.
Jeder Tag in der Hütte vergrößerte den Hass und es wuchs eine unglaubliche Rachsucht in ihr. Sie würde es den Dornbachs heimzahlen. Für alles sollten sie büßen! Jeder Einzelne sollte seine Rechnung bekommen und treffen würde jeder Racheakt auch Jens – tief ins Herz. Das war das Wichtigste! Es musste Jens wehtun – er sollte hilflos zuschauen müssen, wie seine Familie litt! Eine größere Strafe konnte es für ihn nicht geben. Weder eine Gefängnisstrafe noch eine Trennung von Celine würden ihn so schmerzen wie das, was sie sich ausdenken würde.
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