Nach einem erfolgreichen Realschulabschluss startete sie auf einem sozialen Berufsgymnasium richtig durch. Sie hatte ein Ziel – sie wollte Medizin studieren. Etwas anderes, als hart zu arbeiten, um ihren Doktortitel in Rekordzeit in der Tasche zu haben, gab es für sie nicht mehr. Nicht nur für die Schule arbeitete sie hart, sondern verdiente nebenher auch noch Geld. Das sparte sie aber größtenteils für ihr geplantes Studium. Es machte ihr nichts aus, wenn die Mitschüler ständig neue Markenklamotten trugen oder von einem „geilen“ Urlaub erzählten. Clara spürte keinen Neid und auch keine Eifersucht. Sie war der Hölle entkommen und hatte andere Erwartungen an sich und das Leben, als irgendwelche Oberflächlichkeiten zu pflegen.
Kurz vor dem Abitur geschah dann doch das große Wunder: Ein Junge schaffte es mit ungebrochener Geduld und Feingefühl, Claras Herz zu erobern. Sie konnte im Nachhinein nicht fassen, dass Jörg es geschafft hatte, sie zu verführen und schließlich im beschwipsten Zustand zum Geschlechtsverkehr zu überreden. Das Gefühl, das sie dabei hatte, war – sie konnte es sich kaum eingestehen, fast nicht zulassen – schön, sehr schön! Überrascht war Clara selbst über ihr Verhalten während des Liebesaktes – sie war vollkommen entfesselt und nahezu schamlos. Sie hatte es getan und es war alles andere als schlimm gewesen – sie hatte doch eine Chance auf ein normales Leben. Es war ein echtes Wunder! Jörg war sehr gefühlvoll und der begehrteste Junge an der Schule. Das waren ihre Gedanken am Morgen danach. Ja, sie wollte leben! Richtig leben und da gehörte die Liebe dazu. Sie war in der Lage, zu lieben – dann würde sie es auch tun und genießen. Einfach genießen !
Als sie in der Schule ankam, sah sie eine große Schüleransammlung vor dem Haupteingang des Schulgebäudes. Sie steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Da musste etwas passiert sein. Sie lief auf die Versammlung zu, plötzlich schrie eine Mitschülerin: „Da, da ist sie! Sie kommt!“ Wie sich dann herausstellte, hatte Jörg ein kleines Video vom Vorabend vorgeführt, in dem sie die Hauptrolle spielte. Der Film hieß: „Wer knackt die eiserne Jungfrau?“ Jörg hatte es geschafft! Er war der tolle Held und wurde gefeiert! Es wurden Wettgelder eingelöst und wie Clara auch noch erfuhr, wurde an dem Abend eine „eiserne Jungfrauen-Erlösungsparty“ gefeiert!
An diesem Tag hörte Clara endgültig auf an das Gute zu glauben. Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie versteckte sich für Tage in ihrem Zimmer, heulte und überlegte ernsthaft, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur eine barmherzige Schwester, die sie sehr gern hatte und schon am Tag ihres Einzuges im Kinderheim ins Herz geschlossen hatte, weil sie so anders war als die ungezogenen, faulen Gören, schaffte es, sie davon abzuhalten. Sie redete stundenlang auf Clara ein: „Es gibt ausreichend wichtige Aufgaben auf dieser Erdkugel, die es wert sind weiterzumachen, Clara. Viele Menschen brauchen dringend medizinische Hilfe, um überhaupt überleben zu können. Als Ärztin kannst du vor allem auch misshandelten Frauen zur Seite stehen. Das müsste doch nach dem, was du in deinem bisherigen Leben mitgemacht hast, ein großes Anliegen für dich sein. Statt deinem Leben ein Ende zu setzen, solltest du über vernünftige Zukunftspläne nachdenken.“
Es dauerte eine Weile, bis Clara das auch so sah, dann aber stellte sie sich wieder auf die Beine und machte weiter! So wie bis zu jenem unglücklichen Tag – sie lernte und arbeitete. In der Schule gelang es ihr recht schnell, in Ruhe gelassen zu werden, weil sie einfach keine Angriffsfläche bot. Es wurde langweilig, sie zu ärgern. Aber eines war klar: „Männer sind alle Schweine!“ Nie wieder würde sie einen von ihnen an sich heranlassen oder gar in ihr Herz schließen! Sie hasste sie alle von ganzem Herzen. Noch nie hatte sie auch nur ansatzweise etwas Gutes von diesem Geschlecht erfahren.
Die nächste Katastrophe ließ aber nicht lange auf sich warten. Morgendliche Übelkeit machte ihr zu schaffen. Der erste logische Gedanke war – ein Virus! Und das so knapp vor den Prüfungen! Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass das noch das kleinere Problem gewesen wäre. Die regelmäßige Übelkeit ließ nämlich im Laufe des Tages nach und wurde durch einen unglaublichen Appetit ersetzt. Die Brüste spannten zum Zerbersten … Nein, das konnte nicht sein. Wann hatte sie ihre letzte Periode gehabt? Sie hatte nie sonderlich auf den Rhythmus geachtet. Wozu auch? Aber es kam der Tag, an dem sie nichts mehr schönreden konnte, denn der Test war eindeutig.
Wieder große Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Trauer. Warum, warum meinte es das Leben so schlecht mit ihr? Was hatte sie angestellt, dass sie immer nur Prügel einstecken musste? Wenn man an Wiedergeburt glaubte und an die Sühnung der Sünden aus dem letzten Leben, dann musste sie wohl in ihrem letzten Leben ein Monster gewesen sein.
Wieder saß Schwester Barbara stundenlang an ihrem Bett und machte ihr klar, dass ein Kind immer ein Geschenk Gottes sei – eine große Aufgabe, die sie zu erfüllen habe. „Das Kind wird dein Lebensinhalt sein. Du musst die Verantwortung für ein kleines Wesen tragen. Du bekommst die Möglichkeit, intensiv zu lieben und geliebt zu werden, ohne darüber nachzudenken, ob du nur ausgenutzt wirst. Es wird echte, ehrliche Liebe sein, die dir dein Kind geben wird. Du kannst das Kleine so großziehen, wie du es gerne erlebt hättest.“
„Aber mein Studium – was ist mit meinen beruflichen Träumen? Die kann ich unter diesen Umständen völlig vergessen.“
„Clara, so lange ich atme, mich bewegen und klar denken kann – kannst du mit mir rechnen. Tag und Nacht, mein Kind. Ich werde dir zur Seite stehen, wann immer du Hilfe brauchst. Du weißt, dass du dich auf mich hundertprozentig verlassen kannst. Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe, und jetzt bekomme ich quasi noch ein Enkelkind. Ich bin glücklich und freue mich sehr darüber. Du siehst, mein Einsatz ist nicht ganz uneigennützig.“
Ja, Schwester Barbara war ein Glücksfall, ein Goldstück – ihre Zuneigung war das Beste, was ihr in ihrem bisherigen Leben passiert war. Zuverlässigkeit – durch sie hatte dieses Wort endlich eine Bedeutung erhalten. Ihre Mutter war auch ein liebenswerter Mensch gewesen, aber Zuverlässigkeit hatte ihr gefehlt. Immer wieder hatte sie Rückzieher gemacht, wenn sie ihrer Tochter das Versprechen gegeben hatte, das „Arschloch“ zu verlassen.
Über Abtreibung wurde also nicht mehr gesprochen! Schwester Barbara hielt Wort und unterstützte Clara in den folgenden vier Jahren intensiv. Clara hatte sich jedoch nach langen Überlegungen und Hunderten von Gesprächen mit Schwester Barbara doch entschlossen, erst einmal nur eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Sie könne im Nachhinein immer noch studieren. Aber so habe sie zumindest eine abgeschlossene Ausbildung und könne von Anfang an Geld verdienen. Das brauchte sie auch dringend, weil sie mit achtzehn eine eigene Wohnung suchen und für sich und Joy selbstständig sorgen musste. Es waren verdammt harte Jahre, aber Schwester Barbara wich ihr wie versprochen nicht von der Seite.
Als Clara gerade die Ausbildung sehr erfolgreich beendet hatte und echte Glücksgefühle aufkamen, folgte schon der nächste Schlag. Schwester Barbara starb völlig überraschend an den Folgen eines Schlaganfalls.
Jetzt war Clara wieder ganz auf sich allein gestellt. Sie meldete Joy, die inzwischen drei Jahre alt war, in der Kita an. Und so versuchten sie weiter über die Runden zu kommen. Joy war ein sehr braves und vernünftiges, aber kein trauriges Kind. Die Gene ihres Vaters kamen ihr zugute. Sie war sehr beliebt und schloss schnell Freundschaften im Kindergarten. Ziemlich schnell hatte sie jedoch eine Lieblingsfreundin. Magdalena! Die beiden waren wie füreinander gemacht. Sie passten so gut zusammen, dass es manchmal beängstigend war. Sie mochten die gleichen Spiele, das gleiche Essen, den gleichen Sport …
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