Nachdem Bose an seinem eigenen Körper experimentiert hatte, versuchte er als Botaniker ein ähnliches Experiment mit einer Pflanze. Er nahm einen 20 Zentimeter langen Nerv eines Farns und verband die Enden mit einer elektromotorischen Kraft von nur einem Zehntel Volt. Dadurch liefen ungefähr drei Zehnmillionstel Ampere durch den Nerv oder ungefähr tausendmal weniger als die Stromstärken, mit denen sich die meisten modernen Physiologen und Ersteller von Sicherheitsvorschriften in der Regel beschäftigten. Auch bei dieser niedrigen Stromstärke stellte Bose genau den umgekehrten Fall von Pflügers Gesetz fest: Die Anode stimulierte den Nerv und bei der Kathode reagierte er kaum. Offensichtlich kann die Wirkung der Elektrizität sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren je nach Stärke des Stroms Wirkungen erzeugen, die einander genau entgegengesetzt sind.
Trotzdem war Bose nicht zufrieden, da die Effekte unter bestimmten Umständen keinem Muster konsequent folgten. Vielleicht, vermutete er, war Pflügers Modell nicht nur falsch, sondern auch allzu simpel. Er spekulierte, dass die angelegten Stromstärken tatsächlich die Leitfähigkeit der Nerven und nicht nur ihre Ansprechschwelle veränderten. Bose stellte das überlieferte Wissen infrage, nach dem die nervöse Funktionsweise eine pure Alles-oder-Nichts-Reaktion war, denn dieses Wissen stützte sich lediglich auf Experimente von Chemikalien in einer wässrigen Lösung.
Seine folgenden Experimente bestätigten seinen Verdacht auf spektakuläre Weise. Im Gegensatz zu bestehenden Theorien über das Verhalten von Nerven – die noch heute im 21. Jahrhundert existieren – veränderte sogar der geringste fortwährende elektrische Strom grundlegend die Leitfähigkeit der von Bose getesteten tierischen und pflanzlichen Nerven. Wenn der angelegte Strom in die gleiche Richtung wie die Nervenimpulse floss, verlangsamte sich die Geschwindigkeit der Impulse und beim Tier wurde die Muskelreaktion auf die Stimulation schwächer. Wenn der angelegte Strom in die entgegengesetzte Richtung floss, waren die Nervenimpulse schneller und die Muskeln reagierten heftiger. Bose stellte fest, dass er durch Verändern von Stärke und Richtung des angelegten Stroms das Leitvermögen der Nerven bei Tieren und Pflanzen nach Belieben steuern konnte. Dabei reagierten die Nerven mehr oder weniger stark auf die Stimulation oder blockierten sogar die Leitfähigkeit komplett. Und nach Abschalten des Stroms wurde ein Rückpralleffekt beobachtet: Wenn eine bestimmte Stromstärke die Leitfähigkeit senkte, wurde der Nerv nach dem Abschalten überempfindlich und blieb dies auch für eine gewisse Zeit. In einem Experiment erzeugte eine kurze Stromstärke von 3 Mikroampere – 3 Millionstel Ampere – eine nervöse Überempfindlichkeit, die 40 Sekunden andauerte.
Der hierfür benötigte Strom war unglaublich niedrig: Bei Pflanzen reichte ein Mikroampere und bei Tieren ein Drittel eines Mikroamperes aus, um die Nervenimpulse um etwa 20 Prozent zu verlangsamen oder zu beschleunigen. 10Das ist ungefähr die Stromstärke, die durch Ihre Hand fließt, wenn Sie beide Enden einer Ein-Volt-Batterie berühren oder die durch ihren Körper strömt, wenn Sie unter einer Heizdecke schlafen. Das ist um einiges geringer als der Strom, der auf Ihren Kopf übertragen wird, wenn Sie mit einem Handy telefonieren. Und wie wir sehen werden, wird sogar noch weniger Strom benötigt, um das Wachstum zu beeinflussen, als der, der zur Steuerung der Nervenaktivität erforderlich ist.
Im Jahr 1923 stellte Vernon Blackman, ein Landwirtschaftsforscher am Imperial College in England, in Feldversuchen fest, dass elektrische Ströme von durchschnittlich weniger als einem Milliampere (ein Tausendstel Ampere) pro 4.000 m2 Landfläche die Erträge mehrerer Arten von Kulturpflanzen um 20 Prozent erhöhten. Er berechnete, dass der Strom, der durch jede Pflanze fließt, nur etwa 100 Pikoampere beträgt – das ist ein 100-Billionstel Ampere, etwa tausendmal weniger als die Stromstärken, die nach Bose für die Stimulation oder Abschwächung der Nerven notwendig waren.
Die Feldergebnisse waren jedoch inkonsistent. Also verlegte Blackman seine Experimente ins Labor, wo sowohl die Expositions- als auch die Wachstumsbedingungen präzise gesteuert werden konnten. Gerstensamen wurden in Glasröhrchen gekeimt, dann wurden über allen Pflanzen Metallpunkte in unterschiedlichen Höhen angebracht, jeweils einer pro Pflanze. Diese wurden über Gleichstrom auf etwa 10.000 Volt aufgeladen. Der durch jede Pflanze fließende Strom wurde mit einem Galvanometer genau gemessen, und Blackman stellte fest, dass eine maximale Wachstumssteigerung mit einem Strom von nur 50 Pikoampere bei lediglich einer Stunde pro Tag erzielt wurde. Eine längere Anwendungszeit verringerte den Effekt, und die Erhöhung der Stromstärke auf ein Zehntel Mikroampere war immer schädlich.
Im Jahr 1966 bestätigten Lawrence Murr und Kollegen von der Pennsylvania State University mit ihren Experimenten an Zuckermais und Buschbohnen Blackmans Feststellung, dass Strömungen um ein Mikroampere das Wachstum hemmten und Blätter beschädigten. Dann gingen sie mit diesem Experiment einen Schritt weiter: Sie machten es sich zum Ziel, die niedrigste Stromstärke zu ermitteln, die das Wachstum beeinflusst. Und sie fanden dabei heraus, dass jede Stromstärke von mehr als einem Billiardstel Ampere das Pflanzenwachstum stimulieren würde.
In seinen Radioexperimenten verwendete Bose ein Gerät – er nannte es einen magnetischen Crescograph – das die Wachstumsrate von Pflanzen um ein Zehnmillionenfaches vergrößert aufzeichnete. 11Wie oben angesprochen war Bose auch ein Experte für drahtlose Technologien. Als er an einem Ende seines Grundstücks einen Funksender und am anderen Ende, 200 Meter entfernt, eine Pflanze an einer Empfangsantenne anbrachte, stellte er fest, dass selbst eine kurze Funkübertragung die Wachstumsrate einer Pflanze innerhalb weniger Sekunden veränderte. Die in seiner Beschreibung implizierte Sendefrequenz betrug etwa 30 MHz. Die verwendete Energie ist uns nicht bekannt. Bose stellte jedoch fest, dass ein „schwacher Reiz“ eine sofortige Wachstumsbeschleunigung hervorrief und dass eine „mittelstarke“ Funkenergie das Wachstum verzögerte. In anderen Experimenten bewies er, dass die Exposition gegenüber Radiowellen den Aufstieg von Saft verlangsamte. 12
Boses Schlussfolgerungen aus dem Jahr 1927 waren eindrucksvoll und prophetisch. „Das Wahrnehmungsvermögen von Pflanzen“, schrieb er, „ist unvorstellbar größer als unser eigenes; sie nehmen nicht nur wahr, sondern reagieren auch auf die verschiedenen Strahlen des riesigen Ätherspektrums. Vielleicht ist es auch gut so, dass unsere Sinne in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beschränkt sind. Denn das Leben wäre sonst unter dem ständigen Angriff dieser unaufhörlichen Wellen von Weltraumsignalen unerträglich – zumal die Backsteinmauern unserer Häuser ziemlich durchlässig sind. Unser einziger Schutz wären dann hermetisch versiegelte Metallkammern.“ 13
KAPITEL 7
Akute Krankheiten der Elektrizität
Am 10. März 1876 lösten sieben berühmte Wörter eine noch größere Lawine von Drähten aus – in einer elektrifizierten Welt, die sich bereits in ein ganzes Kabelgewirr verheddert hatte. Sie lauteten: „Herr Watson, kommen Sie, ich brauche Sie.“ Es waren die ersten Worte, die je über ein Telefon, wie wir es heute kennen, gesprochen wurden.
Im übertragenen Sinne hörten und beherzigten diesen Ruf bei der Weltpremiere des Telefons in Boston Millionen von Menschen – ganz so, als ob sie in einer Wüste leben würden, die nur darauf wartete, bepflanzt und bewässert zu werden. Im Jahr 1879 besaßen nur 250 Menschen in ganz New York City ein Telefon. Eine Vision keimte, setzte sich durch, und nur zehn Jahre später sprossen aus demselben Boden dichte Wälder von 24 bis 28 Meter hohen Telefonmasten mit bis zu jeweils 30 Abzweigungen. An jedem Baum in diesen elektrischen Hainen hingen bis zu 300 Drähte, die die Sonne verdeckten und die darunterliegenden Alleen verdunkelten.
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