So. Gibt es das?
Ich sitze jetzt direkt vor der Tür des Besprechungszimmers auf einer Holzbank. Über der Tür hängt so ein Motivationsposter: eine glückliche Blondine mit Bäckermütze, ein cooler Typ mit Zahnspange und Schraubenschlüssel in der Hand und ein anderer mit Strähnchen im Haar, der einen Pinsel schwingt. Darüber steht: »Mach’s richtig«. Jemand hat die Schrift als Sprechblase umrandet und was dazugekrakelt, sodass der Kfz-Mechaniker jetzt zum Maler mit Pinsel sagt: »Ich mach’s Dir richtig«. Die Bäckerblondine hat einen Schmollmund und eine Krokodilsträne abbekommen.
An mir vorbei laufen die ganzen erwachsenen Arbeitslosen, aus dem anderen Gebäudetrakt. Mit fahlen Gesichtern und irgendwelchen Blättern zum Ausfüllen in den Händen. Die sind hier nicht zum Spaß. Das macht einem ganz schön Angst. Hier will ich nicht noch mal hin.
Sarah sammelt die Bögen ein, und vielleicht hab ich mich auch geirrt, aber ich glaube, sie hat mir zugezwinkert. Unter ihrem weißen T-Shirt zeichnet sich ihr Busen ab. Ich kann nicht genau erkennen, ob sie einen BH trägt.
(Sorry. Das schreibe ich jetzt hier wie im Tagebuch, O.k. Weil ich mir eigentlich doch nicht vorstellen kann, dass Du das liest. Vielleicht streich ich es auch nachher, sicherheitshalber. Aber jetzt lass ich es erst mal so stehn.)
Ich frag mich auf einmal – warum auch immer –, wie alt man als Referendarin so ungefähr ist. Paul sagte mir vorhin auf dem Klo, alle reden heute über sie, alle gucken ihr auf die Titten (hat Paul so gesagt). Dann ging die Tür auf der Jungstoilette auf, sie stand da und meinte trocken, sie habe keine Lust, sich hier zum Affen zu machen und allen hinterherzulaufen. Die Jungs sollten jetzt die Bögen ausfüllen oder gleich nach Hause gehen. Oder sich mal drüben angucken, wie es aussieht, wenn man hier regulär anstehen muss. Weil man keine andere Chance hat. Da sind dann alle rausmarschiert und haben brav zum Stift gegriffen. Die nimmt das nicht so hin wie Frau Frevert. Das gefällt mir.
Sie kommt hier aus Schönburg, direkt neben Schwarzbeck, ist nach dem Abi nach Berlin gegangen. Zum Studieren. Und jetzt ist sie anscheinend wieder da. Seine Schwester kennt sie noch. Die hat inzwischen zwei Kinder und ist verheiratet. Pauls Schwester ist jedenfalls 25.
Ich werd reingerufen. Ein Raum mit Topfpflanze auf dem Fensterbrett, bunten Mallorca-Postkarten, die mit Tesafilm an den Spanholzschrank gepappt wurden, und einem Katzenbildschirmschoner, der auf dem Computer flimmert. In diesem Raum entscheidet sich also meine Zukunft.
Die Arbeitsamtsberufsberaterin wendet sich förmlich an mich: »Tom. Erst einmal möchten wir uns bei Ihnen bedanken, dass Sie den Bogen so konkret ausgefüllt haben. Bei so vielen Details ist es uns sehr leichtgefallen, ein passendes Berufsprofil zu erstellen.«
Sie lächelt mich motivierend an. Ich bin ein offenes Buch. Ich bin verblüfft. Genau das hab ich mir erhofft. Aber warum krieg ich dann jetzt Angst?
»Der Beruf, den wir für Sie entdeckt haben, wird Ihnen vielleicht erst mal nicht so viel sagen. Er ist auch erst seit wenigen Jahren ein anerkannter Ausbildungsberuf ... Die Empfehlung hat natürlich nichts mit Ihrem äußeren Erscheinungsbild zu tun, keine Sorge, sondern besonders mit den Ausführungen und Wünschen, die Sie uns haben zukommen lassen. Ich gebe Ihnen hier mal das Tätigkeitsprofil, damit Sie sich etwas darunter vorstellen können ... Aber kriegen Sie keinen Schreck. Das ist ein ganz normaler Beruf.«
Sie reicht mir einen Bogen. Ich linse auf die Überschrift, bin auf alles gefasst.
Auf fast alles.
Bestattungsfachkraft
Die Ausbildung zur Bestattungsfachkraft ist in Deutschland seit dem 1. August 2003 möglich. Die Ausbildungsdauer beträgt 3 Jahre und wird in Bestattungsinstituten und in Friedhofsverwaltungen durchgeführt. Die praktische Ausbildung wird im Betrieb durchgeführt und umfasst unter anderem die Bergung, Überführung, Versorgung, Einkleidung und Einbettung von Verstorbenen. Grabtechnik, Warenkunde, Dekoration, Beratungsgespräch und Trauerpsychologie werden in zwei überbetrieblichen Lehrgängen im Bundesausbildungszentrum der Bestatter in Münnerstadt gelehrt.
Im kaufmännischen Teil der Ausbildung werden das Beratungsgespräch mit den Angehörigen, die Organisation, Planung und Kontrolle der Bestattung, die Kalkulation und Rechnungslegung, aber auch die Beurkundung eines Sterbefalls beim Standesamt sowie alle nach einem Sterbefall abzuwickelnden Formalitäten vermittelt. Dazu gehören zum Beispiel das Abmelden eines Verstorbenen bei den Krankenkassen und den Rentenversicherungen.
Puh. Puh. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen.
»Tom?«
»Tom, hallo, alles O.k.? Das ist ja erst mal nur eine Empfehlung. Du kannst ja auch was anderes machen. Aber das hat so gut gepasst, ist abwechslungsreich und«, Sarah reicht mir noch zwei ausgedruckte kleine Zettel, »ich hab auch schon zwei Ausbildungsplätze entdeckt hier in der Umgebung, wo du dich noch bewerben könntest für dieses Jahr.«
Ich nicke. Na, dann passt ja alles perfekt.
»So, wer ist als Nächstes dran?«, fragt die Dame von der Berufsberatung schon und drängt mich hinaus.
Draußen fragen Paul und Max gleich: »Und, na, was wirst du jetzt?«
Ich sage nix. Das kann man doch keinem erzählen. Auch Papa nicht. Schon gar nicht. Der denkt dann gleich wieder, mit mir stimmt was nicht, wenn die mir hier so was empfehlen.
Bevor ich zurückfahre, geh ich lieber in Kiel noch ins Solarium. Zum Sonnenstudio Palme. Ich habe in letzter Zeit ganz schön Augenringe. Vielleicht hat es auch daran gelegen ...
Solarium hab ich auch von Mike gelernt. Ohne ihn wäre ich doch niemals ins Solarium gegangen. Schon allein wegen dem Krebs. Erst habe ich immer draußen vor der Kabine gewartet, bis er fertig war, hab ihn sogar aufgezogen damit, aber dann wollte ich es irgendwann doch ausprobieren. Ich mag eigentlich gar nicht mal am liebsten daran, wie ich danach aussehe, das ist mir fast egal, ich finde am besten, wie schön warm es dort ist.
Ich stell mir dann immer vor, ich wäre verreist. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich in echt mal verreist war. Mit der ganzen Familie, früher. Vater, Mutter, Kind. Meer, Sonne, Strand. Vielleicht zehn Jahre oder so ist das her, und wenn ich das schon sagen kann, dann bedeutet es, es ist mehr als mein halbes Leben her.
Jetzt bietet mir Carsten nur noch manchmal an, mich ins Trainingslager mitzunehmen, in den Ferien. Aber das ist ja keine Erholung oder so was – wer als Zwerg wie ich zwischen Hammerwerferinnen, Boxern und Bobfahrern in einem Leistungszentrum Urlaub machen will, der muss schon ein ziemliches Selbstbewusstsein haben.
Auf der Fahrt zurück, kurz vor Schwarzbeck, treffe ich ausgerechnet auf die Referendarin, Sarah. Wir beide sind anscheinend die einzigen Fahrradfahrer der ganzen ausbildungsplatzlosen Oberstufe. Sonst ist mir unterwegs jedenfalls keiner begegnet.
Ihr klappriger Drahtesel hat einen Platten. Das Bike sieht sowieso aus, als ob sie es irgendwann mal zum Kindergeburtstag geschenkt bekommen hat, mit buntem Speichenschutz und einer großen Klingel. Fehlen nur noch die Stützräder.
Sie fragt mich, wo ich denn jetzt grad herkomme, aber natürlich sag ich nichts vom Solarium.
Unter der neuen Bräune werde ich rot. Ich glaube, ihr Hinterreifen ist richtig kaputt, und wir schließen ihr Rad schließlich an einen Zaun an, irgendwo mitten auf der Strecke. Es kommt mir vor als würden wir es wie einen hinkenden Wanderkameraden kurz vor dem Berggipfel im Stich lassen. Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir beide schieben. Hatte gehofft, mich so noch ein bisschen mit ihr unterhalten zu können.
Aber es kommt noch viel besser: Sie will sich allen Ernstes vor mich auf mein Rennrad setzen, auf die Stange, noch bevor ich mich darauf einstellen kann, springt sie wie selbstverständlich auf, und da ist sie mir so nahe, dass ich kaum fahren kann, geschweige denn mich locker und unbeschwert mit ihr unterhalten. Das ist echt ein bisschen zu viel für mich.
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