Documenta zu bleiben – ein Happening noch keine Negation der etablierten Moderne, bloß weil es in Kuba oder in Brasilien stattfindet, zwei Ländern, die ebenso vom Einfluß Europas und der USA geprägt sind wie die Kunstform des Happenings, das als abgesunkenes Kulturgut längst zum Mainstream der westlichen Gesellschaft gehört. Ein theoretischer Diskurs, der diesen Widerspruch nicht reflektiert, ist nicht auf der Höhe seines Gegenstands, denn Europa hat ja nicht nur Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus hervorgebracht, sondern auch deren konsequente Kritik: Von der Proklamation der Menschenrechte bis zur Abschaffung der Sklaverei, und von der französischen bis zur russischen und chinesischen Revolution, die selbst in ihren radikalsten Ausprägungen noch von europäischen Vorbildern geprägt war. Die sozialromantische Glorifizierung der Dritten Welt als Subjekt und Objekt der Revolution geht ebenso auf Ideen der Aufklärung zurück wie die Herabstufung der Anderen zu Untermenschen und blutrünstigen Bestien, die bei der antisemitischen Propaganda der Nazis Pate stand. Bei Licht betrachtet, sind die Klischees von rechts und links gar nicht so weit voneinander entfernt, denn Europa war und ist der einzige Kontinent, der sich permanent selbst kritisiert und seine zivilisatorischen Errungenschaften von innen heraus in Frage stellt, was man von anderen, ethnozentrisch geprägten Kulturen
so nicht behaupten kann: Man denke nur an China, Japan oder die arabische Welt.
Der Erkenntnisgewinn der postkolonialen Theorie liegt weniger in dem, was sie über die Dritte Welt zu sagen hat, als im Studium der Rückwirkungen von Kolonialismus und Imperialismus auf deren Ursprungsländer, also um die Frage, wie die Wahrnehmung der Anderen die Selbstbilder Europas und der USA beeinflußt hat. Auch das ist nicht neu, denn der Mechanismus der Projektion, die mehr über den Absender aussagt als über den Adressaten, ist aus der Freudschen Psychoanalyse seit langem bekannt. Umgekehrt ist die Heiligsprechung der Dritten Welt, gekoppelt mit der Illusion, diese habe vor der Kolonisierung im Stande der Unschuld gelebt, nicht weniger reaktionär als ihr Gegenteil, der Dünkel des Westens, fremden Kulturen nicht bloß technisch, sondern auch moralisch überlegen zu sein.
Eine Probe aufs Exempel liefert das kürzlich im Campus Verlag erschienene Buch Jenseits des Eurozentrismus – Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften , das wichtige Vertreter dieser Denkrichtung vor allem aus angelsächsischen Ländern zu Wort kommen läßt. Schon die Namen der Herausgeber Sebastian Conrad und Shalini Randeria sind Programm; die Kritiker des Postkolonialismus treten gerne im Doppelpack auf, wobei erst die exotische Provenienz dem Ganzen das richtige Flair verleiht. Abgesehen von Platitüden wie: »Orientreisende sahen sich als Menschen, die in den Osten selbst in seiner tatsächlichen Realität fuhren«, oder »daß die englische Kolonialgeschichte nicht lediglich in Übersee, sondern gleichermaßen auf den britischen Inseln stattfand«, sind die meisten Beiträge des Bandes sehr lesenswert und vermitteln einen guten Überblick über den Stand der postkolonialen Theorie. So ist der von John L. und Jean Comaroff durchgeführte Vergleich zwischen den Armenvierteln Londons im 19. Jahrhundert und den Wohnverhältnissen in Betschuanaland zwar zutreffend, weil in beiden Fällen Licht und Hygiene, verkörpert von Bibel und Einfamilienhaus, als Allheilmittel empfohlen wurden, aber keineswegs neu: Schon die Abolitionisten des 18. Jahrhunderts zogen Parallelen zwischen dem sozialen Elend in den Metropolen und der Sklaverei in den Kolonien. Und es ist nicht nachzuvollziehen, warum die Missionsarbeit in Afrika postkolonialen Kritikern peinlich und lächerlich erscheint, bloß weil der Unterschied zwischen différence und différance (Derrida) Missionaren des 19. Jahrhunderts nicht geläufig war.
Hier zeigt sich einmal mehr eine fatale Tendenz zur Verabsolutierung der Dritten Welt, die ansonsten brauchbare Einsichten konterkariert, etwa wenn Dipesh Chakrabarty eine britische Impfkampagne in Indien als koloniale Vergewaltigung interpretiert – was wiederum nicht heißen soll, daß das zum Fetisch erklärte westliche Entwicklungsmodell über jede Kritik erhaben sei. Der Gipfel der Absurdität aber ist Steven Feiermans idyllische Sicht des vorkolonialen Afrika, die lokale Formen der Knechtschaft und Sklaverei zur Folklore bagatellisiert und gleichzeitig die Völkermorde in Ruanda und Biafra mit Schweigen übergeht, obwohl der Text die Kulturen der westfrafrikanischen Igbo und der ostafrikanischen Tutsi thematisiert – so als blende eine Darstellung des Zweiten Weltkriegs die Judenvernichtung aus. Gegen diese Gefahr ist Sheldon Pollocks Analyse der Indologie im nationalsozialistischen Staat gefeit, doch insgesamt ist die Faktenbasis zu schmal, um den überzogenen Anspruch zu rechtfertigen, der postkoloniale Diskurs sei mehr als eine selbstreferenzielle Theorie und akademisches l’art pour l’art .
Literaturhinweise
Okwui Enwezor, Carlos Basualdo u. a. (Hg.): Democracy Unrealized , Documenta 11-Platform 1; Experiments with Truth , Documenta 11-Platform 2, Jeweils ca. 400 Seiten, Hatje Cantz Publishers, Kassel 2002
Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus – Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften , 398 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002
»Nur in der Nacht des Vorurteils
sind die Neger schwarz …«
Nachrichten aus Darfur
N’djamena, Mai 2004
Dies ist die heißeste Jahreszeit in Tschad, 29 Grad Celsius um vier Uhr früh bei der Landung am Flughafen, und tagsüber klettert das Thermometer auf über 50 Grad. »Das Wetter wird oben entschieden, genau wie die Politik«, sagt Omar, der Nachtwächter des »Novotel«, »und uns bleibt nichts übrig, als die Knie zu beugen – il faut se plier!«–»Die Flüchtlinge aus Darfur sind eine Plage für unser Land«, fügt er ungefragt hinzu, während er mit dem Käscher herabgefallene Blätter aus dem Schwimmbecken fischt. »Der Osten des Tschad ist staubtrocken und bitterarm, und die Menschen dort haben selbst nicht genug zu essen. Die Vertriebenen sind unsere Vettern, aber sie kommen bewaffnet über die Grenze mit Frauen, Kindern und Tierherden, die alles kahlfressen, und vermutlich gehen sie nie wieder weg. Inschallah!«
Hinter dem Hotel fließt der Chari-Fluß vorbei, der in der Trockenzeit nur noch wenig Wasser führt. Schwimmende Inseln, unter denen sich Flußpferde verbergen, die nachts an Land waten, um in Ufernähe gelegene Felder abzugrasen. Früh am Morgen herrscht reger Fährbetrieb: Pirogen aus ausgehöhlten Baumstämmen transportieren Passagiere über den Fluß und kehren, mit Fahrrädern und Gießkannen beladen, wieder zurück. Auf der anderen Seite des Chari liegt Kamerun, und Schmuggler nutzen das Preisgefälle aus – ein kleiner Grenzverkehr, der von den Behörden geduldet wird.
Das in der Sahelzone gelegene Tschad gehört zu den ärmsten Ländern Afrikas, und die Hauptstadt N’djamena, früher Fort Lamy, sieht aus wie ein Wüstencamp. Glühendheißer Wind treibt Staub durch die Straßen, und Lastwagen, Land Rover und Jeeps fahren zwischen Ministerien, Botschaften und Büros von Hilfsorganisationen hin und her. Die Mauern sind mit bunten Bildern bemalt zur Warnung vor Landminen, Cholera und Aids; auf Schautafeln ruft die Regierung zu regelmäßigem Händewaschen und zur Benutzung von Kondomen auf. Schwer zu glauben, daß diese von Wellblechhütten umbrandete Stadt einst ein Zentrum afrikanischer Großreiche war. Im historischen Museum wird der Unterkiefer des homo tschadensis gezeigt, Lucys älterer Bruder, der vor 3,5 Millionen Jahren gelebt haben soll.
Читать дальше