Auf der Reise des Helden entspricht der Eremit dem Archetyp oder dem selbstlosen Diener des eigenen Selbst – im Gegensatz zum Hohepriester , der ein göttliches Bild vom Ich darstellt –, der die Wahrheit in der Seele des Menschen sucht (auch Diogenes hielt mit einer angezündeten Lampe am helllichten Tag in den Straßen von Athen Ausschau nach einem wahren Menschen). Sein Ziel ist es, sich dem Kern der Dinge zuzuwenden und das eingetrichterte Wissen des Hierophanten um seine intuitive Erkenntnis zu ergänzen. Doch ebenso wie der Priester, dessen privater Charakter kaum an das von ihm gepriesene Bild des Göttlichen heranreicht, ohne dass sein Ansehen in der Welt dadurch Schaden nimmt, hat der Eremit im Alltag natürlich auch alle Fehler seiner überragenden Tugenden, die da sind: Erstarrung, Verhärtung, Entfremdung, Verbitterung und Lebensfeindlichkeit. Dieses Sinnbild, das gleichzeitig positiv und negativ ist, kann in der Mythologie als zweifacher Archetyp des alten Weisen und des bösen Zauberers erscheinen – als der gute und der böse Magier.
Als Mann im Mond personifiziert der Alte mit seiner Laterne auch die kraftvolle Ruhe und innere Sammlung. So wie es bei der Karte Mond – deren Quersumme er bildet11 – auf das Erschließen der inneren Räume ankommt, geht es hier um das Ausloten der bewussten Räume. Dabei dringt er bis zu den Mysterien und in die tiefsten Abgründe vor, denn als einzige der persönlichen Karten kann er die Täuschungen des Ego durchschauen. Er ist das Licht, das die Finsternis des menschlichen Strebens erhellt und sich somit in seinem eigenen Schatten erkennt. Vor diesem Hintergrund ist er der Wahrheit am nächsten: Erkenne dich und du erkennst in dir Gott und Teufel!
In der Kampfbahn des alltäglichen Erlebensist der Eremit ein Symbol des Willens, dem nächsten Elefanten zu begegnen, auf dem der Elefant steht, der die Welt trägt , als Orakel, das uns mitteilt, was wohl das wirkliche Ziel hinter unserer Sehnsucht darstellt. Dabei wählt er mit Absicht die Einfachheit, um sich nicht von äußeren Dingen ablenken zu lassen und seinen Bewusstseinsfokus lieber seinen inneren Erkenntnisprozessen zur Verfügung zu stellen. Manchmal steht er auch für eine Phase des Rückzugs, die wir uns erlauben, um uns über unsere inneren und äußeren Motivationen klar zu werden. Das Ziel liegt darin, durch Beharrlichkeit, innere Reife, Ausgewogenheit und Kompetenz der eigenen Nichtigkeit und Sinnlosigkeit zu begegnen, um zu spüren, was uns wirklich wichtig ist. Sicher keine Zukunft, die in rosaroten Farben geschildert wird, und auch keine Luftschlösser und hohlen Versprechungen – die sind uns ein Gräuel. Hier ist nicht der schnelle Gewinn, sondern der langfristige Erfolg das Ziel. Deshalb ist es uns wichtig, Illusionen zu hinterfragen und unkontrollierte Emotionen aus unserem Umfeld zu vertreiben. Diese Operationen bezahlen wir aber wiederum mit dem Fehlen himmelhoch jauchzender Vorfreuden und schäumender Erwartungen – darin liegt der Preis dieser seriösen Karte: Die Evokation eines depressiven inneren Seelenanteils, der sich Wahrheit nennt. Der asketische Ruf des Eremiten nach heilender Beschränkung gereicht uns nur dann zum Vorteil, wenn wir nicht nach marktschreierischer, übertriebener Einsicht streben, sondern Wissen und Erkenntnis einfach nur als die Pflastersteine auf dem Weg zu nehmen, auf dem wir uns zur (inneren) Wahrheit bewegen. Dann, aber nur dann, eignet er sich als weiser innerer Ratgeber, der die ihm Folgenden im sprichwörtlichen Sinn nicht hinters Licht führt.
Auch in Liebe und Beziehungist diese Karte ziemlich widersprüchlich. Im spröden Verlangen, uns von den betörenden Illusionen angenehmer Selbsttäuschungen zu befreien und uns stattdessen mit der mentalen Verarbeitung und Vertiefung der Wirklichkeit zu konfrontieren, übernimmt sie gerne die Rolle des asexuellen Alten, der wie Diogenes mit seiner Laterne auf der Suche nach Menschen oft auch nur auf der Flucht vor sich selbst ist. Dieser fühlt sich am wohlsten dabei, wenn er nicht von außen behelligt wird, denn die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis absorbiert viel libidinöse Energie und Kraft. Er ist der Sachwalter der geistigen Verdichtung und misstraut der Schwingung der Emotionen, die für ihn als Luftschlösser schon immer Unüberprüfbarkeit und Irrationalität verkörpern. Auf der anderen Seite ist es manchmal auch ein Misstrauen gegen sich selbst, weil er eine gefühlsmäßige Übereinstimmung mit dem Sinn seines Lebens ohne tiefere Erkenntnis nicht akzeptieren kann. Gefühle sind für ihn ein derart beängstigendes Terrain, dass er sie so sehr in sich verschließt, dass er sich selbst den Weg zu ihnen versperrt, bis sich die nicht gelebte Energie dann als Frust oder einem Gefühl des Unbehagens bemerkbar macht. Diesen Mangel kompensiert er wiederum durch pflichtbewusstes Streben in die Tiefe, und Zielstrebigkeit oder Pünktlichkeit stellt er folgerichtig über Leidenschaft. Das zeigt: Der depressive und schmerzgeile Hagestolz steht für das Fehlen jeglichen libidinösen Gewürzes mit Ausnahme vielleicht der Masturbation, womit er seine Sparflamme-Leidenschaft ein bisschen aufpeppen kann. Er mag zwar nur der sichtbare Däumling an der Brust des höheren Selbst darstellen, der aus der Vogelperspektive mehr den Anteil seiner eigenen Projektionen als den anderer Menschen aus Fleisch und Blut erkennt; andererseits kann er seine eigenen Beziehungsmuster hinterfragen und feststellen, was ihm am anderen wirklich wichtig ist. Deshalb beruht die Karte auf einer die Libido nicht so sehr unterstützenden Haltung, die mehr die inneren Ziele und geistige Haltung pflegt, denn ihr Credo gipfelt in der Einsicht, dass der suchende Mensch mehr einer starken inneren Führung als einer äußeren Begleitung bedarf.
Der Eremit in der Kabbala
– Tiefergehende Erkenntnisse –
Jod = Jehova = Gott-in-uns-selbst
Der hebräische Buchstabe, der sowohl die Jungfrau wie auch den Eremiten regiert, ist Jod , der erste und höchste Buchstabe im JHVH, dem Namen Gottes oder Tetragrammaton – die Grundlage der Weisheit oder der Vater aller Dinge. Als eigentlicher Same des Alphabets steht die winzige Flamme auch für die Urschöpfung, die potente Kraft oder das Mysterium des Spermiums, das in Beantwortung der Frage Was ist das Ziel? oder Was ist der Sinn der Schöpfung? aus der Leere in den Raum herüberschwingt.
Wer sind wir? – das ist die Frage, die sich hinter dem Namen Gottes verbirgt. Gott zieht uns an, weil wir intuitiv spüren, dass er auf irgendeine Art in uns ist oder wir in ihm zumindest ein Bild unserer Sehnsucht umfassen, das uns auf bestimmte Weise entspricht. Der Schöpfungsmythos ist irgendwie unsere eigene Geschichte: die Suche nach JHVH = Gott-in-uns-selbst . Deshalb verbirgt sich in Jod neben dem Spermium auch das Mysterium der Quelle des menschlichen Bewusstseins, in dem sich die individuelle Erkenntnis spiegelt oder rekapituliert. Crowley schreibt: In diesem Trumpf wird das gesamte Mysterium des Lebens in seinem allergeheimsten Wirken gezeigt.12
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