Kommen wir nun zu den verschiedenen Requisiten auf dem Bild: Die leuchtende Laterne in der Form eines Oktaeders (Achtflächner) mit der sechzehnstrahligen Sonne, die an einen strahlenden Diamanten erinnert, ist das Licht der Erkenntnis oder der Schnittpunkt, an dem sich unbewusstes Wissen mit bewusster Erinnerung vermischt.7 Es ist die Stelle, an der sich persönliche Einsicht und kollektive Weisheit verbinden. Wenn wir selbst einem Weisen begegnen, werden wir uns auf diesen Punkt ausrichten und ihn in seinem äußeren Erscheinungsbild erfassen, und zwar in dem Rahmen, wie uns das unser eigener geistiger Führer erlaubt. D. h. im Grunde löst der alte Mann mit der Laterne das Bild in uns aus, wie wir unsere eigene Lebenserfahrung und Reife wahrnehmen können. Die Strahlenpyramide, die das Licht des Diamanten mit der Sonne potenziert und in geometrischen Lichtbündeln über das ganze Bild verteilt, steht für geistige Vision, spirituelle Befreiung und Erleuchtung. Das Ganze ist wie ein Strahlencluster, der die Flammen der Erkenntnis in der Dunkelheit des menschlichen Materialismus und der Oberflächlichkeit verstreut, und die sich wahrnehmende Erkenntnis entspricht exakt dem Eremiten . Es ist die durch Askese in mächtigem Umfang freigesetzte Libido, die plötzlich losbricht. Wir können es auf den Punkt bringen und sagen, die diamantene Sonne ist des Alchemisten inneres Bild der Suche, das gespiegelte Bild seines inneren Feuers, und solange er dessen Glanz (noch) nicht erträgt, muss er sich abwenden (und masturbieren). Diese innere Kraft wird ihn aber trotzdem leiten, solange er die Bestätigung seines Ego im außen nicht braucht und ihn auch die Projektion nicht interessiert, wie die Welt seine Person wahrnimmt. 1
Das wichtigste Requisit ist das schlangenumwundene (= Orphische) Weltenei, dem es gelingt, die Aufmerksamkeit des Eremiten auf sich zu ziehen, auf den Ursprung aller Dinge und das Mysterium der Schöpfung, für das es steht, und damit seinen geistigen Kanälen die richtige Richtung zu geben. So wie das Ei die Lebendigkeit des Alten ausdrückt und seine geistig-imaginäre Kraft, entspricht das Spermatozoon im unteren Teil der Karte dem zeugenden Impuls, aus dem alles entstehen kann, sofern es auf fruchtbaren Boden trifft. Crowley glaubt, dass der Höhepunkt des Abstiegs in die Materie das Anzeichen für die Erneuerung durch den Geist ist. 8 Poetisch ausgedrückt klingt das so:
Wandere alleine; trage das Licht und deinen Stab. Und sei ein Licht von solchem Glanz, dass kein Mensch dich erkenne.
Buch Thoth, S. 253
Oder aber auch:
Der Erkennende erkennt stets nur den Schatten seines eigenen Unerkannten. Der Sinn der Wahrheit liegt weniger darin, sie zu erkennen, sondern vielmehr in der Beantwortung der Frage, warum wir sie überhaupt suchen müssen.
Baphomet – Tarot der Unterwelt
Das Spermatozoon als geistiges Symbol zeigt weiter an, dass es der gebeugten Gestalt um den Schöpfungsimpuls, den Sinn des Lebens, und nicht um die oberflächlichen Spiegelbilder der auf- und abhüpfenden Alltagsflashs geht, die ihn in seiner Ernsthaftigkeit behindern. Der einzig freie Himmelsausschnitt im riesigen Weizenfeld hinter dem Orphischen Ei offenbart dem Betrachter ganz klar, dass es ihm auf der Ebene des Eremiten gelingt, hinter den Spiegel der gesellschaftlichen Reflexionen zu schauen und einen Blick auf die wesentlichen Dinge zu werfen, an die er sich wieder erinnert. Da dieser Blick aber nicht darauf zielt, festzustellen, ob Menschen ihm auf seinem Weg folgen oder nicht, zeigt diese Karte weniger die Verbindung mit anderen Seelen an als den Wunsch nach Verschmelzung mit der eigenen Erkenntnis. Auf dieser Suche macht er auch vor der Hölle nicht Halt. Der gezähmte, dreiköpfige Höllenhund Zerberus als Symbol der in der Persönlichkeit integrierten Unterwelt, die dem Alten wie ein Schatten folgt, füllt den archetypischen Anteil des bei sich selbst Unentdeckten aus. Dass er aber in den Bereich der Lichtstrahlen fällt, zeigt auch, dass es dem Eremiten trotz bewusster Abwendung gelingt, sich auf einer unbewussteren Ebene damit auseinanderzusetzen. Dem suchenden Menschen eröffnen sich aus dem geheimnisvollen Schoß im Dunkeln die großen Inspirationen, die zu einzigartigen Schöpfungen führen, wie wir sie aus den alten Schriften eines Vergil oder Dante kennen. In diesem Sinne ist er auch der Hinterfrager des überlieferten Weltbildes, die Sicht der Dinge, die er sieht, da man sie ihm von Kindsbeinen an eingeflößt hat, nicht einfach zu übernehmen. Der Trick jeder anerzogenen Kultur besteht nämlich darin, die Leute dahin zu bringen, sich harmonisch mit dem zu verbinden, was man ihnen vordem als Lebensgrundlage eingetrichtert hat – damit die menschliche Gesellschaft überhaupt funktioniert.
Weiterführende Bemerkungen
1 Der Eremit erinnert auch an die Legende von Persephone und dies enthält einen Lehrsatz. Im Merkur-Prinzip ist ein Licht verborgen, das alle Teile des Universums gleichmäßig durchdringt; einer seiner Namen ist Psychopompos, der Führer der Seele durch die unteren Bereiche. Diese Symbole werden durch seinen Schlangenstab angedeutet, der buchstäblich aus dem Abyssos herauswächst und das Spermatozoon darstellt, das wie ein Gift entwickelt ist und den Fötus offenbart, schreibt Crowley über diese Karte.9 Darin wird das gesamte Mysterium des Lebens in seinem allergeheimsten Wirken gezeigt.
Deshalb könnte man den Eremiten auch als das motivierte Streben des Geistes bezeichnen, hinter dem Bild des Hierophanten das Geheimnis der Hohepriesterin zu suchen. Oder noch unverblümter: Auf einer zynischeren, für Crowley typischen Stufe lässt die Karte eine weitere Deutung zu: Des Eremiten magischer Stab verkörpert das zu Gift transmutierte Spermatozoon: Yod = Phallus = Spermatozoon = Hand = Logos = Jungfrau. Damit will er unverblümt ausdrücken, dass der Weg zur Erleuchtung auf sublimierter Onanie beruht und jedes enthaltsam-religiöse Streben auf verletztem und entstelltem Tantra.
– Psychologische Zusammenhänge –
Das Ende der individuellen Entwicklungsskala des Narren
Der Zahlenwert des Eremiten (= 9) verrät, dass es sich hier um die personifizierte Selbstfindung in ihrer vollen Größe handelt. Die Ziffer mit dem höchsten Wert ist ihm zugeordnet und damit vollendet er den Reigen einstelliger Zahlen (beginnend beim Magus und beim Narren ) als letzten Punkt auf der individuellen Entwicklungsskala. So wie der Magier die Frage Bin ich? kraft seines die eigene Existenz erschaffenden Erkennens eindeutig mit Ja! beantworten kann10, so kann der Weise nun klar erkennen, was oder wer er ist, und zwar gerade durch die weiterführende Erkenntnis, die sich in der Frage verbirgt: Wer ist der, der sich die Frage stellt? Damit steht er auch in vollkommener Harmonie zu seinem Zahlenwert: 9 ist die Zahl, die immer wieder zu sich selbst zurückfindet, denn jede mit 9 multiplizierte Zahl ergibt in der Quersumme wiederum 9.
Diese fundierte Kenntnis der eigenen Existenz beruht auf der sehr differenzierenden Betrachtungsweise des Eremiten , die strikt das, was er tatsächlich ist, von dem trennt, was andere – oder gar er selbst – auf ihn projizieren. Ebenso trennt er das, was er tatsächlich ist, von dem, was ihn wiederum mit anderen verbindet. Gerade dieser Aspekt der Trennung in vielfältigster Ausprägung führt zu einem der ihn am deutlichsten kennzeichnenden Attribute: die isolierte Abgeschiedenheit. Diese Einsiedelei beschert ihm innere wie äußere Ruhe zur Meditation, um vorausgegange Erfahrungen nicht nur gemacht, sondern aus ihnen auch gelernt zu haben. Es sind niemals die anderen – du bist es immer selbst, ganz allein! ist die weiterführende Konsequenz auf die vorangegangene Aussage der Gerechtigkeit oder Ausgleichung .
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