Gegen Ende desselben Jahres las ich, dass diese Journalistin Mutter eines gesunden Jungen geworden war. Und wieder hat eine Frau ein Kind bekommen können, wie sie und ihr Partner es geplant hatten, ging mir automatisch durch den Kopf. Man kann sein Denken nicht ausschalten. Viele gemischte Gefühle kamen plötzlich in mir auf. Aber natürlich habe ich mich auch für sie gefreut.
Wo aber standen wir?
Wo wir schon einige medizinische Behandlungen durchlaufen hatten, womit immer große Freuden und Aufregungen verbunden waren.
Es war noch vor 2012. Seitdem muss in der BRD jedes Paar ein Viertel der Behandlungskosten selbst tragen.
Im Herbst 2006 hatte ich dienstlich in Düsseldorf zu tun. Ich wusste, dass meine Regel bevorstand. Nahm noch zu Hause eine Schmerztablette ein, denn ohne ging es schon seit Jahren nicht mehr. Im Zug verstärkten sich die Kopfschmerzen derartig, dass ich zu einer weiteren greifen musste. Aber es half alles nichts.
So war in Düsseldorf als erstes die Apotheke meine Anlaufstelle. Nachdem ich mein Leid und das Eingenommene erklärt hatte, erhielt ich frei verkäufliche Tabletten und von der freundlichen Dame hinter dem Tresen den gut gemeinten Rat: „Wenn ich Sie wäre, würde ich mir überlegen, ob ich nicht besser die Pille einnähme. Damit hätten Sie dieses Dilemma nicht!“
Ich lächelte zurück.
Erwiderte nichts.
Fand blitzschnell zu mir.
Im vorigen Jahr hatte ich diese künstlichen Befruchtungen über mich ergehen lassen, die bisher nichts Positives brachten. Aber nun sollte ich, bei unserem unbedingten Kinderwunsch, gegen Schmerzen zeitweilig die Pille nehmen? Die Welt ist ganz schön schräg. Innerlich musste ich lachen. Wenigstens lebt er, mein schwarzer Humor. Dem ich sehr danke. Hätte die Dame gewusst, …, es wäre ihr sicher peinlich gewesen.
Im Wartezimmer der Gynäkologin: Ich sitze inmitten sehr verschiedener Frauen. Eine davon ist jung, ist schwanger, dem Bauch nach zu urteilen, dauert es nicht mehr lange.
Mein Baby wird wohl nie geboren, denke ich.
Eine andere zeigt ihr Neugeborenes vor, die Sprechstundenhilfen treten neugierig hinzu und himmeln es an.
Mein Baby wird wohl niemand bewundern können, schade.
Dass ich heute hier bin, hat mit der Nachuntersuchung zur Bauchspiegelung zu tun. Nachdem der Eingriff gut verlaufen war, teilte mir die Ärztin die eigentlich tolle Nachricht mit, dass ich gesund bin. Dass von meinen Krankheiten, die 2006 aktuell waren, Gebärmutter und Eierstöcke weiterhin verschont geblieben sind.
Werde ich wohl auch noch so einen Bauch haben dürfen, wie diese Frau gegenüber?
Eher nicht, geht mir bedauerlicherweise durch den Kopf.
Dabei habe ich immer auf mich geachtet, ein gesundes Leben konsequent favorisiert. Ich habe Sport getrieben, nicht geraucht, kaum Alkohol getrunken, stets versucht, mich ausgewogen zu ernähren.
Bin ich womöglich aus irgendeinem Grund von vornherein abgestempelt, kein eigenes Kind zu gebären? Habe ich vielleicht irgendetwas Unrechtes in meinem Leben getan? Ich kann diese Strafe, diese Ungerechtigkeit an meiner Person nicht begreifen. Warum passiert mir das? Warum ausgerechnet ich? Doch kenne ich keine Antwort.
Tröstet es, dass um mich herum noch andere Frauen sitzen? Ich weiß nicht. Warum sind sie hier? Es ist ihnen nicht anzusehen. Könnte sie ein ähnliches Schicksal ereilt haben? Vielleicht hat diese oder jene Krebs. Möglicherweise geht es bei einer anderen gar um Abtreibung. Und was ist mit der Frau, die gerade jetzt zur Tür hereinkommt, musste sie vielleicht schon über eine Totgeburt wehklagen?
Ich weiß nicht, warum sie alle hier sitzen. Ich will es auch nicht wissen. Zudem hat nicht jede einen Babybauch oder das Neugeborene dabei. Es ist schon so, den Frauen mit den schweren Krankheiten merkt man es oft nicht an.
Ein wenig tröstet mich, dass meine Gynäkologin sich entsprechend Zeit für jede einzelne nimmt, damit diese Frauen die Aufmerksamkeit bekommen, die sie benötigen, die ihnen zusteht. Ich ahne, wie sie mit den Trauernden trauert, weiß, dass sie Trost spendet und wie sehr sie sich über das Glück eines Babys mitfreuen kann.
Hier bin ich richtig. Ein gutes Gefühl zu wissen, als eigenständige Person, als Frau, als eine mit solchem Schicksal, angenommen zu werden.
Das „Richtige“ in Angriff nehmen
Nachdenken?Freilich habe ich lange mit meinem Schicksal gehadert. Jahre zuvor hatte ich mir eine Zeit lang sogar Babykosmetik gekauft. Natürlich weil sie gut ist, doch auch, weil ich damit meinen Wunschtraum kompensierte: Während ich zunächst keineswegs daran zweifelte, zwei Kinder zu bekommen – wahrscheinlich erst ein Mädchen und später einen Jungen. Nur kam es anders. Erfüllte sich nicht.
Der Wunsch aber bleibt.
Fernsehen?Sendungen über Probleme des Zusammenlebens, Heirat oder auch „Unser Baby ist bald da“, kann ich nicht schauen. Stoße ich beim Zappen zufällig darauf, merke ich sofort, wie sehr mich das berührt, ergreift, entkräftet.
Das muss ich mir nicht mit anschauen, das ist mir zu viel.
Einkaufen?Wird in den Discountern, die ich aufsuche, denn etwa keine Babynahrung angeboten? Ich schätze schon. Aber diese Gänge kenne ich nicht. Diese Gänge gehe ich nicht. Ich bin immer schon einen Gang weiter.
Schreiben?Eines Tages stellte mein Mann fest, wie eifrig ich schrieb, wie wichtig es mir wurde, schnellstens an den Computer zu gehen. Alles Mögliche schrieb ich mir von der Seele.
Bis ich meinem Mann – auf sein Nachfragen hin – gestand, dass es wohl ein Buch werden wird. Seine Antwort: „Das habe ich mir schon fast gedacht.“
Von da ab schaute mein Mann regelmäßig zu mir ins Büro, die flüchtigen Besuche taten mir sehr gut. Es gab ein kleines schwarzes Notizbuch, mein ständiger Begleiter, ob im Lokal, im Bus oder im Auto. Dafür fuhr ich schon mal rechts ran.
Mit dem Schreiben des Buches kam ein Stück Motivation zurück. Jetzt hatte ich mich anders mit dem Thema und meinem, unserem Schicksal auseinanderzusetzen. Es musste doch einen Sinn ergeben. Mein Mann und ich waren da in der letzten Phase unserer Planung. Eine Planung, die auch zum Inhalt hatte, 2008 mit einem Wohnmobil nach Irland zu reisen.
Eine „richtige“ Bande. Herr Trauer
Manchmal bekomme ich Besuch.
Diesmal ist es Herr Trauer. Er steht vor der Tür, weil er gerade in letzter Zeit in meinem Umfeld reichlich zu tun hatte.
Das hab ich kommen sehen, ich nicke verständig und lasse ihn ein.
Herr Trauer überträgt seinen Zustand automatisch auf mich. Das ist eine seiner leichtesten Küren, er vereinnahmt gern, spielt nicht nur den Seriösen in seinem Schwarz, sondern hat auch immer ein Taschentuch parat. Er geht auf mich ein.
Das lasse ich mir gefallen.
In all der langen Zeit habe ich ihn noch nie lachen sehen, vermutlich kann er das gar nicht und jetzt, da er mir so nahe ist, stelle ich fest, dass seine dunkle Kleidung keinerlei Farbtöne mehr hat. Im Gegenteil, vernachlässigt, verwaschen und schluderig kommt er mir vor. Aber für Herrn Trauer sind weder das Äußere noch die Ernährung wichtig, er hängt als hagerer Trauerkloß umher, genau wie seine Haare, die schon lange keine Schere mehr gesehen haben.
Das erlaubt auch mir, mich hängen zu lassen.
Herr Trauer hat immer Geschenke mit. Er trägt sie gebündelt als psychosomatische Symptome im Gepäck. Die er großzügig zu verteilen gedenkt.
Je stärker der Verlust, den man erlitten, desto spendabler tritt Herr Trauer auf. Über ein gewisses Grundsortiment verfügt er ständig, so hält er Nervosität, Depressionen, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen stets parat.
Ich habe festgestellt, bei den Besuchen von Herrn Trauer durchläuft man mehrere Phasen.
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