Mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass alles, was Klara liebte - ins Theater Gehen, Tanzen, Wandern oder Schwimmen – Kappes Geschmack nur begrenzt traf. Im Theater, wenn es nicht gerade das Thalia oder das Rose-Theater waren, ermüdeten ihn langstielige Monologe, beim Tanzen ärgerte ihn, dass Klara sich von anderen Kerlen auffordern ließ, statt zu wandern, lief er sich in der Riesenstadt oft genug im Dienst die Hacken ab, und Schwimmen - er war der Sohn eines Fischers, der das Wasser nie höher als bis zu den Knien an sich heranließ. Sich in einer Badeanstalt anderen Menschen halbnackt zu präsentieren, wäre ihm alleine nie in den Sinn gekommen.
Dennoch ging er gerne mal am Luisenstädtischen Kanal entlang. Er warf dem dicklichen Nachttopfhändler, der nach rechts zum Elisabethufer abbog, einen letzten Blick hinterher, bevor er die Waldemarbrücke überquerte und der faulige Geruch des stehenden Gewässers ihm in die Nase stieg. Ein paar nach Teer und Unrat riechende Lastkähne schmorten in der Morgensonne. Kappe verlor alle Lust, seinen Weg zum fauligen Wasser des Engelbeckens fortzusetzen, und ging lieber gleich an der Rückfront der Markthalle vorbei zur Dresdener Straße. Hier war es ein wenig schattiger. Trotzdem wischte er sich erst mal den Schweiß aus dem Genick, als er in die breite Prinzenstraße einbog. Geschäft reihte sich hier an Geschäft, und dazwischen war jeweils eine Kneipe. Traute man den Reklametafeln, so befanden sich in manchen Häusern ein halbes Dutzend und mehr Läden, von den Werkstätten in den Höfen und von den Kellerlokalen, aus denen es muffig stank, ganz zu schweigen.
Mein Gott, wie viele Menschen schon am frühen Morgen auf so einer Straße herumwuselten! Die vollbesetzten Straßenbahnen bimmelten sich ihren Weg frei, Fuhrwerke ächzten knarrend daher, Droschkenkutscher knallten mit der Peitsche, der Pferdeomnibus bahnte sich seine Spur, und die Kraftwagen knatterten stinkende Wölkchen aus dem Auspuff, die sich mit dem warmen Mief der Stadt vermischten. Und dazwischen Händler mit ihren Karren und Hunderte von Fußgängern, die in alle Richtungen strebten, nur nicht in die von Kappe gewählte. Das versprach ja wieder ein Tag zu werden!
Wie oft hatte er sich danach gesehnt, wenigstens mal einen Sonntag alleine mit Klara zu verbringen, und seine Pläne dafür waren weit gediehen, denn jeden Sonntag besuchte die ebenso gestrenge wie neugierige Mutter Mucke den Gottesdienst in der Emmauskirche am Lauseplatz - eine einzigartige Gelegenheit, Klara in sein Zimmer zu schmuggeln. Doch Klara sperrte sich wider Erwarten mit aller Entrüstung, zu der so ein hochgekommenes Dorfmädchen fähig war. Wie anders dagegen die blonde Rieke, eine echte Berlinerin, die wusste, was einem im besten Saft stehenden Mann guttat. Dabei war sie verlobt, wie sich zu Kappes Kummer bald herausgestellt hatte. «Aber deswegen können wir uns doch trotzdem gelegentlich mal ein paar schöne Stunden miteinander machen», hatte sie ihm unverblümt angeboten, und er hatte empört abgelehnt. Eine Eselei, wie er inzwischen wusste. Was ging ihn der Verlobte an? Kümmerte sich Klaras Stenz vielleicht um Hermann Kappe?
Eine Unmutsfalte über der Nase, stiefelte Kappe die Neanderstraße hinauf in Richtung Janovenbrücke . Es hatte ein Weilchen gedauert, bis er sich Galgenbergs Ausdrucksweise angewöhnt hatte, aber inzwischen fiel es ihm schwer, wenigstens von Canow gegenüber die korrekten Bezeichnungen wie «Lausitzer Platz» oder «Jannowitzbrücke» zu gebrauchen. Als er diese überquerte, bereute er längst, zu Fuß gegangen zu sein, denn die Alexanderstraße zog sich noch einmal ein ganzes Stück bis zum Präsidium.
Dort angelangt, war er anscheinend tatsächlich der Erste in der Abteilung und fand noch drei Minuten Ruhe, sich von dem Weg zu erholen, bevor Galgenberg munter und kregel hereinstürmte, seinen Strohhut quer durch das Amtszimmer segeln ließ und ihn mit einer seiner öden Scherzfragen begrüßte: «Na, Kappe?
’N Satz mit Kandelaber?»
Genervt verzog Kappe das Gesicht.
«Meine Olle kann de Laberwurscht nich vertraren!»
Kappe grinste verkniffen. Hatte er nicht neulich in einer Kneipe auch so einen Spruch vernommen?
«’N Satz mit Telefonstangen», forderte er. «Na, Herr Kollege?»
Ratlos sah ihn Galgenberg an. «Was ist denn mit Ihnen los, Kappe? Meinen Sie den? Der Hund von mein Nachbarn hat Junge bekommen. Da kriege ich och ’ne Töle von.»
Kappe schüttelte den Kopf. «Die besten Teele von Stangenspargel sind die Köppe!», sagte er stolz.
Galgenberg schien beeindruckt. «Donnerwetter! Hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Kappe. Sie machen sich!»
«Hat er wieder eine seiner genialen kriminalistischen Eingebungen?» erkundigte sich Dr. Kniehase, der im Hereinkommen Galgenbergs Lob vernommen hatte. «Oder wollen Sie sich etwa als Kriegsfreiwilliger stellen? Beim Portier fragen dauernd Männer an, wo man sich melden muss.»
«Is denn schon Kriech?», fragte Galgenberg scheinheilig. «Ich habe das Tageblatt heute noch nicht gelesen.»
Er warf die Zeitung auf den Tisch. Die Bemühungen zur Lokalisierung des Krieges. .. , las Kappe. Das klang nicht sonderlich beunruhigend. Und die Überschriften, die Galgenberg gleich darauf zitierte, auch nicht: Günstigere Auffassung in Petersburg - Prestigepolitik, aber keine besondere Angriffslust. England vollkommen desinteressiert - Appell der französischen Presse an Kaiser Wilhelm.
Ein paar Seiten weiter fand Galgenberg etwas, das Kappe entschieden intensiver lesen würde als das Kriegsgetöse: Der Flug über den Atlantik . Er reichte Kappe das Blatt, der sich sofort in die ausführliche Meldung über den Leutnant Porte vertiefte, der in der nächsten Woche mit seinem Curtiß-Flugboot Amerika von Neufundland aus starten sollte.
Mit einem unerwarteten Ruck öffnete sich die Tür, und von Canow spazierte herein. «Na, meine Herren? Was meldet unsere vaterländische Presse?», erkundigte er sich jovial.
Nun gehörte die Zeitungslektüre nicht unbedingt zu den dienstlichen Obliegenheiten der Kriminalwachtmeister, doch Galgenberg wusste nur zu genau, was von Canow am liebsten hörte, und las wie aus der Pistole geschossen: «Kaiser Wilhelm hat gestern Abend sechseinhalb Uhr Bergen auf dem Kreuzer Rostock ohne vorherige Ankündigung verlassen. Er wird heute Nacht in Kiel erwartet. Die deutsche Flotte erhielt Befehl, sich an einer bestimmten Stelle. ..»
Von Canow hob die Hand. «Unsere stolze Flotte!», sagte er.
«Die wird den Engländer noch das Fürchten lehren!»
Er griff nach dem Tageblatt , das Galgenberg ihm eilfertig reichte. «Steht da gar nichts über die gestrigen Kundgebungen in Berlin?»
Er blätterte um und war beruhigt. «Ah ja, hier: Die Skandalszenen vor der russischen Botschaft. Massenansammlungen und Verkehrsstockungen Unter den Linden und in der Friedrichstraße. Das hätten Sie sich ansehen sollen, meine Herren! Kann sein, dass wir auch noch zur Bereitschaft abkommandiert werden, falls diese Begeisterung anhält. Und davon gehe ich aus. Jeder deutsche Mann kennt eben seinen Platz!»
Und schritt erhobenen Hauptes hinaus.
Keiner der drei sprach es aus, aber Kappe fiel nichts anderes ein als einer von Galgenbergs frechen Sprüchen: Hohle Köpfe trägt man leicht hoch.
MARTHA JUNGNICKEL, geborene Zeppenfeld, verwitwete Unrauh, war nahe daran, die letzten Nerven zu verlieren. Nur mit einer leichten Kittelschürze bekleidet, fegte sie schwitzend durch Flur und Küche ihrer düsteren Hinterhofwohnung und wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Wie jeden Morgen hatte Otto das Haus am frühen Morgen auf der Suche nach Arbeit verlassen, und auf der Chaiselonge in der einzigen Stube schlief Max grunzend seinen Rausch aus. Jedenfalls vermutete sie das, denn er war erst gegen Morgen hier aufgetaucht.
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