„Warum stolzierst du denn hier herum und fliegst nicht zum Teich?”, fragte sie neugierig. Da hatte sie natürlich meinem wunden Punkt erwischt. Als ich ihr aber von meinen Abenteuern mit den Menschen erzählte, wurde sogar sie recht schweigsam.
„Da hast du ja schon allerlei erlebt, kleiner Kerl!”, meinte sie zum Schluss unserer Unterhaltung. Sie spreizte ihre Flügel und flog davon.
Ich will auch fliegen können. Ob ich mal meine Pflegemama frage, wie ich das anstellen soll? Aber ich habe sie noch nie fliegen sehen. Menschen können das vielleicht überhaupt nicht. Aber ich will mich nicht noch mal vor Else blamieren. Heute Abend in der Dämmerung werde ich Fliegen üben, wenn’s keiner sieht.
Ich habe festgestellt, dass beim Fliegen Start und Landung das Schwierigste zu sein scheint. Erst muss man die Flügel ausbreiten, damit man hoch kommt und hinterher braucht man sie wieder zum Abbremsen, damit man nicht auf die Erde plumpst. Am besten ist es, ich lande auf einem Baum. Aber dicke Zweige muss er haben, sonst biegen sie sich durch und ich rutsche ab und muss flattern, um das Gleichgewicht halten zu können. Schließlich bin ich inzwischen ein schwerer Junge. Aber wenn ich richtig fliegen kann, finde ich vielleicht Papa und Mama wieder. Oder Emilia. Ich suche sie einfach.
Else hat gesehen, dass ich Fliegen geübt habe. Sie ist ein Stück mitgeflogen und hat mich hinterher gelobt. Das will was heißen! Wenn meine Pflegemama von der Arbeit kommt, stehe ich natürlich daheim an der Terrassentür. Sie muss ja nicht wissen, was ich vorhabe. Vielleicht ist sie dann traurig, weil ich weg will.
Jeden Tag fliege ich ein Stückchen weiter. Heute sogar bis zum Kirschbaum im Feld und wieder zurück. Die Welt sieht toll von oben aus! Die Häuser sind ganz klein! Und die Menschen erst!
Ich habe mir vorgenommen, morgen ganz weit zu fliegen. Else hat versprochen, mich ein Stück weit zu begleiten. Sie will mir die Richtung zeigen, damit ich Papa, Mama und Emilia wiederfinde. Ich mache mich einfach davon, wenn’s keiner merkt. Dann fällt der Abschied nicht so schwer. Vielleicht komme ich ja doch noch mal wieder.
Nachsatz:
Emil kam nicht zurück. Seine Pflegemama trauerte ihm ein paar Tage nach, war aber trotzdem glücklich, dass er ganz allein seinen Weg in die große weite Welt gefunden hatte.
Ein Jahr später saß einer der sonst so scheuen Vögel stets in der Nähe der Häuser auf einem Dach und hielt Ausschau. Ob es Emil war? Wer weiß …
Schon beim Betreten des Raumes spüre ich die kritischen Blicke der lieben Mitwartenden. Sie durchbohren mich förmlich. Auf meinen halblauten Gruß hin erhebt sich allgemeines Gemurmel. Ich kann es sowohl als „Guten Tag“ aber auch als „Geh zum Teufel“ interpretieren.
Ich angele nach einer gut gebrauchten Illustrierten vom Tisch, um mich möglichst unauffällig über deren Rand hinweg zu vergewissern, wie viele Leidensgenossen ich noch durchzulassen habe, ehe ich den Quell des Heils – das Sprechzimmer des Arztes – erreiche. Vorläufig haben nämlich die Götter das Warten vor das Ziel gesetzt. Und trotz Termin kommen seltsamerweise immer andere vor einem dran. Zwei Klassen-Medizin: Ich bin Zweitklässler.
In der ergatterten Zeitung strahlen mir trotz eisiger Außentemperaturen süße Bikinimädchen entgegen. Ich forsche leicht irritiert nach dem Datum des Blättchens: Na klar! Vom letzten Sommer. Jaja, der Onkel Doktor kann sich auch nicht ständig neue Zeitungen leisten.
Zwischenzeitlich zähle ich diskret die Vorzulassenden. Elf. Für jeden eine Viertelstunde sind hochgerechnet 11 Viertel, also rund drei Stunden plus/minus etwas. Bis dahin kann ich das Blättchen auswendig.
Ich schaue mir die Mitwartenden genauer an. Da ist zunächst die Dame undefinierbaren Alters. Kluge Augen hinter getönter Brille. Lehrerin? Sie hat sich ihren eigenen Lesestoff mitgebracht. Intellektuellen, versteht sich. Recht hat sie.
Daneben ein Herr, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ephraim Kishon hat. Ständig dreht er an seinem Ehering. Erklärlich, seine bessere Hälfte, die auf den nächsten anderthalb Plätzen thront, erdrückt den Ärmsten fast. Sie versucht, ihn über Diät-Rezepte aufzuklären, die sie gerade in einem der anderen zerfledderten Blättchen fand. Aber Männe mag keine Rezepte hören. Er starrt lieber auf seine Hände und dreht und dreht. Vielleicht ist er Dreher von Beruf?
Als nächster ist wohl der Dürre mit den Spinnenfingern an der Reihe. Mutti hat ihn richtig herausgeputzt für den Onkel Doktor. Sie ist auch lieber gleich selbst mitgekommen. Irgendetwas scheint sie aber an seiner Garderobe übersehen zu haben: Auf seiner Hose befindet sich offensichtlich ein Staubkörnchen oder ein unsichtbares Fädchen. Es erregt den Unwillen des Trägers. Ständig ist er bemüht, etwas abzuklopfen oder abzuzupfen. Mutti versucht inzwischen nach Art der Weitsichtigen, Zeitung zu lesen, so weit ihre Arme reichen.
Dann ist da noch der junge Fußball-Fan. Sein T-Shirt dokumentiert, zu welchem Club er sich hingezogen fühlt. Hin und wieder unternimmt er den Versuch, gewaltsam seine Finger zu verkürzen, indem er an den Nägeln nagt. Als das nichts fruchtet, beginnt er unhörbare Etüden auf seine Jeans zu hämmern.
Auf einem anderen Stuhl hockt ein junger Mann mit Pop-Socken und erklecklich langen Beinen. Zum xten Mal liest er jetzt seinen mitgebrachten Flyer. So viel kann doch unmöglich dadrin stehen?
Die junge Dame neben dem Gummibaum versucht, gegen eine Bronchitis anzukämpfen. Diese behält jedoch die Oberhand und elegant flötet die Frau ihre Bazillen durch die sorgsam manikürte Hand hin zur Allgemeinheit. Sie teilt offenbar gern …
Und dann ist da noch ein betagtes Ehepaar und eine etwas griesgrämig dreinblickende Dame, die versucht, mit Hilfe eines Tüchleins die Bazillen der jungen Frau zu erlegen. Waidmannsheil!
Inzwischen ist noch ein älteres Frauchen mit dem üblichen Rhabarber-Gemurmel empfangen worden. Sie hört kaum hin, packt ihr Strickzeug aus und versinkt in eins links-eins rechts-Apathie …
Dieser anheimelnde Raum wird weiterhin noch von einem lädierten Schirmständer, einem poppigen Papierkorb und einem steril sauberen Waschbecken bevölkert. Der Doc sollte allerdings mal den Wasserhahn zur Kur schicken. Allerdings beim Klempner. Er tropft und tropft und nervt und nervt … Und noch immer vierzig Minuten bis zur Sprechstunde …
„Ephraim Kishon“ ist von seiner Dreherei abgekommen. Er hat etwas Neues: Er hält seine Finger gelenkig, indem er an jedem kurz reißt. Das ergibt in jedem Fall ein apartes Knackgeräusch. Seine Gattin blickt indigniert. Junge lass das! Gleich gibt’s was auf die Finger!
Der Spindeldürre hat sein Staubkörnchen immer noch nicht erwischt. Stattdessen hat Mutti ein Rezept in einer Zeitung entdeckt, was wert ist, abgeschrieben zu werden. Sie kramt in ihrer Tasche und fördert nacheinander Hustenbonbons, Knirps, eine leere Ausweishülle und ein penetrant nach Leberwurst riechendes Butterbrot zutage. Alles wird hübsch sauber auf die ausgelegten Zeitungen auf dem Tisch drapiert. Nach dem Hausschlüssel und einem leeren Brillenetui erblickt dann noch ein Briefumschlag das Licht des Wartezimmers. Der müsste eigentlich als Notizzettel reichen. Nur Mutti kann immer noch nicht schreiben. Sie vermisst ihre Brille. Der Dürre leiht seine her, nur die rutscht Mutti ständig von der Nase. Das Unternehmen „Rezeptabschreiben“ wird abgeblasen. Sämtliche Utensilien verschwinden wieder im Dunkel der Handtasche.
Inzwischen hat der junge Mann aus seinem Flyer eine Fliegenklatsche gefaltet. Aber nun gibt es keine Fliegen und die Klatsche passt nicht in seine knallengen Jeans. Pech für ihn.
Die junge Dame schnüffelt und der Bubi vom 1. FC Wadenbrecher spielt seine Chopin-Etüde auf seiner Hose zum fünften Mal.
Читать дальше