Noch einen Tag bis Heiligabend. Jetzt scheint alles für die Reise geregelt zu sein. Letzte Einkäufe vor dem Fest. Jana fährt mit dem Bus nach Münster, um sich eine Winterjacke zu kaufen. Sonja braucht noch weiße Stiefel für das Weihnachtsspiel. Der Pastor kommt zu Besuch. Im Dorf wird viel über meinen Mann gesprochen. Ich berichte dem Pfarrer, was geschehen ist. Er will ihn in seine Gebete einschließen. Einige Nachbarn rufen an und erkundigen sich nach Bernds Befinden. Sie bieten mir ihre Unterstützung an. Gegen Abend telefonieren die Kinder mit ihrem Vater. Bevor sie zum Hörer greifen, flüstere ich ihnen zu: „Heult bloß nicht! Das belastet ihn noch zusätzlich!“
Am Heiligabend versorgen Christoph und der Lehrling die Tiere. Ich fahre mit Jana und Sonja zur Kirche, sie sind Messdiener im Abendgottesdienst. Anschließend bereiten wir gemeinsam die Weihnachtsgeschenke für Paten und Großmutter vor, die wir am folgenden Tag besuchen wollen. Christoph stellt den Weihnachtsbaum auf und bringt die Lichterkette an. Ich schmücke mit den Mädchen den Baum. Abends kommen Luise und Heinrich, ein befreundetes Paar, die bei uns im Kötterhof zur Miete wohnen. Die Lehrlinge fahren zum Weihnachtsfest nach Hause. Wir essen Plätzchen und trinken Punsch. Ein warmes Essen will keiner mehr. Sonja will sofort ihre Geschenke auspacken und lotst uns alle ins Weihnachtszimmer. Jana spielt auf dem Klavier, Sonja auf ihrer Blockflöte.
Wir sprechen über Bernd. Luise und Heinrich erzählen von ihrer Kindheit an Weihnachtstagen und helfen uns mit humorvollen Erzählungen über den Abend hinweg.
Am ersten Weihnachtstag besuchen wir den Festgottesdienst, nachdem Christoph und ich das Vieh versorgt haben. Gegen Mittag wollen wir nach Olfen zu den Paten von Jana und Sonja und zu ihrer Großmutter, die dort vorübergehend wohnt, aufbrechen.
Wir müssen jedoch erst noch den Tierarzt abwarten, weil ein Rind erkrankt ist. Das Eintreffen des Arztes dauert sehr lang. Ich telefoniere mit Friedrich, einem Freund meines Mannes. Er schaut sich das Tier an. „Es ist alles in Ordnung, ihr könnt ruhig fahren!“ In diesem Augenblick steht auch der Tierarzt vor der Tür. Er untersucht zwei weitere Rinder, die Schwierigkeiten mit der Nachgeburt haben und gibt ihnen Tabletten. Für die Kälber soll das Hustenpulver weiter verabreicht werden.
Endlich können wir losfahren. Bei der Tante gibt es Wildschweinbraten. Das ist wohl nicht das Richtige für die Kinder, aber das macht nichts, es gibt genug anderes zu essen. Außerdem werden sie mit Geschenken überhäuft. Auch hier dreht sich das Gespräch um den Kranken in Russland.
Am zweiten Weihnachtstag steht ein weiterer Besuch des Gottesdienstes an, aber keines der Kinder will hingehen. Ich dränge sie nicht. Zum Mittagessen kommen meine Eltern mit meinem Bruder. Er hat sein Auto einen Tag vorher zu Schrott gefahren. Daher bringt er die Eltern mit deren Auto, um auf seinem Hof noch motorisiert zu sein. Zum Glück ist ihm nichts passiert. Auch die Lehrlinge kommen aus dem Weihnachtsurlaub zurück. Mein Vater regelt mit ihnen die Hofangelegenheiten.
Ich habe inzwischen alles für die große Reise gepackt. Heiner, ein befreundeter Architekt der Familie, und Jana bringen mich zum Flughafen nach Greven. Nach dem Einchecken haben wir gerade noch Zeit für einen Kaffee. Mir fällt ein, dass ich wohl besser noch ein paar Schachteln Zigaretten mitnehmen sollte, da ich meine Marke Lord in Russland wohl nicht bekommen werde.
Als ich mich verabschiede, hat Heiner Tränen in den Augen, Jana drückt mich ganz fest und sieht ebenfalls sehr traurig aus. „Grüß Papa von uns!“, ruft sie mir zu.
Mit meinem Handgepäck und der Gefriertasche mit einem Hasen, den ich als Geschenk für die Übernachtungsmöglichkeit bei Freunden in Berlin mitgenommen habe, betrete ich das Flugzeug.
Der Flug verläuft ohne Probleme, aber vor Aufregung ist mir ganz schlecht. Neben mir sitzt ein Arzt der Unfallchirurgie und verwickelte mich in ein Gespräch, um mich abzulenken. Er hat seine Eltern in Münster-Gremmendorf besucht.
In Berlin- Tegel werde ich von Marlies, Seppel, ihrer Tochter Anja und ihrer Großmutter mit dem Auto abgeholt. Alle bemühen sich rührend um mich und versuchen mir, die Durchreise so angenehm wie möglich zu gestalten.
Am folgenden Morgen bringen mich Marlies und Seppel zum Transitbahnhof. Dort warten schon einige Reisende von der Hansa-Touristik, die wie ich über den Ostberliner Flughafen Schönefeld nach Moskau fliegen wollen.
Am Grenzübergang werden wir nur von Westdeutschen kontrolliert und können dann mit dem Bus gleich durchfahren. Auf der Gegenseite stehen Schlangen von Menschen, die von Ost nach West wollen. Am Flughafen Schönefeld klappt das Einchecken trotz meines viel zu schweren Koffers ohne Probleme. Bald sitze ich in der Aeroflot-Maschine und fliege nach Moskau.
Rechts von mir sitzen zwei freundliche Damen aus Burgsteinfurt, links eine Frau aus der Gegend von München, die mit allem unzufrieden ist. Im Flugzeug werden Säfte angeboten. Ich bestelle mir einen Apfelsaft und verzehre die mitgebrachten Brötchen aus Berlin. Gerade, als ich fertig bin, wird das Essen serviert: festes schmales Brot, Marmelade, Schmierkäse, zweierlei grau aussehende Wurstscheiben und russischer Tee. Die Stewardessen sprechen schlechtes Deutsch und immer, wenn sie unsere Reihe passieren, drücken sie die Plastikverkleidung über den Sitzen hoch, die das Handgepäck verbergen, da die Verkleidung immer wieder aufgeht.
Endlich landen wir in Moskau. Dort warte ich mit meinen Sitznachbarinnen auf Koffer und Taschen. An meinen Mantel hefte ich ein Schild mit meinem Namen in kyrillischer Schrift, das Anna, die Dolmetscherin aus Havixbeck für mich vorbereitet hat. Meine Begleiterinnen halten zunächst mit mir Ausschau nach den Leuten, die mich aus Rijasan abholen wollen. Bald aber müssen die Frauen zurück zu ihrer Gruppe und verabschieden sich von mir. Ich warte.
Ich treffe mich mit Boris, unserem Freund, im Café gegenüber vom Regierungsviertel, dem Kreml. Boris Lubanow leitet, als stellvertretender Bürgermeister, die Geschicke von Rijasan, meiner Heimatstadt. Er erzählt mir von der Abordnung der Jäger aus Münster. Einer der Männer ist schwer erkrankt. Valera, der Mann meiner Kollegin Nina, steht den Gästen als Dolmetscher zur Verfügung. Er erzählt mir, dass die Frau des Erkrankten kommt und als Gast eine ständige Begleitung benötigt. Bevor wir weitere Einzelheiten klären können, wird Boris am Telefon verlangt und muss zurück ins Büro. Hoffentlich wird mir die Aufgabe übertragen und nicht Nina, die ebenfalls als Dozentin im Bereich Germanistik tätig ist. Es wäre schön, mich wieder einmal mit einer Deutschen in ihrer Muttersprache zu unterhalten, Redewendungen kennenzulernen und mein eigenes Wissen zu überprüfen, da es schon einige Jahre her ist, seit ich mit einer Delegation in die DDR fahren konnte. Ich erzähle Nina von meinem Wunsch. Sie meint, das sei kein Problem, zumal ihr Mann schon als Dolmetscher im Krankenhaus eingesetzt ist. Vielleicht könne sie einfach zu einem Treffen mit der Deutschen dazukommen. Dann würden wir beide davon profitieren.
Das Büro erteilt mir den Auftrag, dem deutschen Gast als Dolmetscherin zur Verfügung zu stehen.
Herr Andrej Solschenet vom Exekutivkomitee, Leiter aller Kliniken, soll mich samt Fahrer und Dienstwagen nach Moskau begleiten. Gleich morgen früh werden wir aufbrechen. Die Fahrt wird etwa vier Stunden dauern, es sind etwas über zweihundert Kilometer bis zum Flughafen. Die Maschine aus Ostberlin landet um dreizehn Uhr.
Es ist noch sehr früh, als wir aufbrechen. Ich setze mich in den Fond des Autos und versuche noch ein wenig zu schlafen.
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