»Ich kenne das Protokoll«, erwiderte der Oberste Planetologe. »Die offizielle Begründung lautete, dass diese Entwicklungen zu viel Zeit benötigen würden; vorsichtshalber stieg man gleich aus ihnen aus.«
Ich entsann mich noch gut dieser Zeit, die von ungeheurer Dumpfheit erfüllt gewesen war. Von solchen militärischen Geheimprojekten ahnten wir angehenden Offiziere damals noch nichts, aber es wurden auch sonst allerorten die Mittel gestrichen und gekürzt. Zum Glück befand sich die MARQUIS DE LAPLACE damals gerade auf einer mehrjährigen Exkursion zur Vega, sonst hätte man die Hälfte ihres Personals abgezogen und zur Wiederaufforstung oder in der Kinderbetreuung eingesetzt. Es war wirklich schlimm: Während die Menschheit in nie vermessene Räume aufbrach und neue Horizonte öffnete, regierten auf der Erde spießige und verklemmte Kleingeister. Glücklicherweise war diese Phase auch wieder vorübergegangen, aber ihre Versäumnisse lagen bis heute als schwere Hypothek auf uns. Das trat nicht zuletzt in diesem Gespräch zu Tage.
Andererseits, überlegte ich noch, war es auch eine sehr glückliche Zeit gewesen. Ich hatte Jennifer kennen gelernt und wenig später waren wir zu unserem ersten gemeinsamen Flug aufgebrochen. Das private Glück gedieh also auch in politisch unfruchtbaren Zeiten, es wurde vielleicht sogar durch sie begünstigt, während die großen historischen Wendemarken oft genug von Krieg und Zerstörung, Tragödien und Katastrophen begleitet wurden. Beides ließ sich nicht gegeneinander aufrechnen, und deshalb durfte das Glück des Einzelnen nicht im Mittelpunkt strategischer Überlegungen stehen.
Jennifer musste meine Gedanken gelesen haben, oder die gleichen Stichworte hatten bei ihr ähnliche Erinnerungen freigesetzt: Jedenfalls lächelte sie mir von ihrem Platz an Laertes' Seite zu und deutete eine Kusshand an.
»Die Jahrzehnte«, war Rogers unterdessen fortgefahren, »die man damals als unzumutbar lang empfunden hatte, sind mittlerweile abgelaufen; wir könnten jetzt über die Technologie verfügen, die man damals zu entwickeln für unnötig gehalten hat.«
»Nichts vergeht schneller als die Zeit«, sagte Laertes.
»Das ist wahr«, gurrte Svetlana, deren weißrussischer Akzent verführerisch rollte. Sie war auf Wiszewskys Knie geklettert und saß nun wie ein Schulmädchen in seinem Schoß, während sie liebevoll sein ergrautes Haupt tätschelte.
Wiszewsky, der es selbst bei geheimen Sitzungen ablehnte, auf die Gegenwart der Komarowa zu verzichten, räusperte sich und ergriff zur Ablenkung das Wort.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Herren, handelt es sich bei diesem, bei besagtem Theorem um ein künstliches Verfahren, nicht um ein natürliches Phänomen.«
»Das ist vollkommen richtig, Sir«, beeilte Rogers sich zu sagen.
Reynolds wiegte nachdenklich den Kopf.
»Jedenfalls«, wandte er ein, »ist es bisher nicht möglich gewesen, das Auftreten von Annihilationsphänomenen in der Natur nachzuweisen.«
»Was wohl auf dasselbe hinausläuft«, versuchte Frankel sich rasch zu profilieren.
»Behalten Sie Ihre Haarspaltereien für sich«, fuhr der Commodore fort. »Falls es sich bei dem von uns beobachteten und erlittenen Vorgang also tatsächlich um ein solches Phänomen gehandelt haben sollte, müsste es von jemandem herbeigeführt worden sein.«
»Korrekt«, bellte Rogers, »und Sie können gleich hinzufügen, dass kein Mitglied der Union über eine solche Technologie verfügt.«
»Stehen wir also vor der Frage«, schloss Wiszewsky und fuhr den Zeigefinger aus, »wer steckt dann dahinter?«
Laertes nickte dem Kommandanten anerkennend zu. Vermutlich richtete sich dieser Zuspruch vor allem auf die saubere und schnörkellose Durchführung des Syllogismus, als dass damit schon die Freude über ein Ergebnis verbunden gewesen wäre. Aber es war doch zur Kenntnis zu nehmen, dass Wiszewsky sich ermannen und demonstrieren konnte, dass er logischen Denkens fähig war.
»Dann war es tatsächlich ein Beschuss«, kreischte Jill auf, als sie den Vortrag zu Ende gehört und verdaut hatte.
»Genau, mein Kind«, sagte Dr. Rogers finster. »Und es gibt nur eine Macht in der Galaxis, der die technischen Ressourcen zuzutrauen sind und die auch über die Perfidie verfügt, sie einzusetzen.«
Die Atmosphäre im Messeraum gefror. Das freundliche Weiß seiner Wände wurde fahl und eisig. Wie wenn Nebel sich über einen Gletscher schiebt, wurde das Licht zugleich matter und greller; es löste alle Konturen auf. Wir hörten die Klimatisierung summen wie einen einsamen Wind, der über eine Ebene streicht. In den Elastanverkleidungen knackten die Feldgeneratoren wie sprödes Eis.
»Sie sprechen«, haspelte Lambert mit zitterndem Stimmchen, »von den Sinesern?«
»Ich wäre vorsichtig mit solchen Anschuldigungen«, kam Jennifer einer Antwort Dr. Rogers' zuvor. Ihre Stimme war hart. »Seit der Schlacht von Persephone lebt die unierte Menschheit mit ihnen im Frieden, der im Vertrag von Lombok ...«
»Erzählen Sie mir nichts von Persephone«, donnerte Rogers, der in letzten Sekunden dunkelrot geworden war. »Dieser Stillhaltefrieden, der ihnen unter dem Eindruck unseres militärischen Triumphes bei Persephone, an dem ich nicht ganz unbeteiligt war, abgetrotzt wurde, existiert für sie nur auf dem Papier, das sie genauso missachten wie alle anderen menschlichen Institutionen auch. Wer die Sineser kennt, und ich behaupte sie zu kennen, weiß, dass sie keine Sekunde zögern würden, diesen Vertrag zu brechen und ihre Schmach ungeschehen zu machen, wenn ihnen die Mittel dazu in Hand gegeben wären.«
»Und Sie glauben«, fragte ich, »dass sie nun über solche Mittel verfügen?«
»Der Verdacht drängt sich einem auf«, tobte er mit ungebremstem Zynismus.
Jennifer hatte sich wieder erhoben. Ich wusste, wenn es sie nicht mehr in ihrem Sessel hielt, wurde es gefährlich. Auch ließ sie sich von Rogers' aufbrausendem Temperament nicht nur nicht einschüchtern, sondern gerne provozieren.
»Bis jetzt haben wir keinerlei Anhaltspunkte«, sagte sie. »Nur eine improvisierte physikalische Hypothese, ohne jede wissenschaftliche oder politische Stichhaltigkeit.«
»Bringen Sie mich nicht in Rage«, keuchte der Chefplanetologe und Sieger von Persephone, dem man ansah, dass dies bereits geschehen war. »Und verschonen Sie mich mit einer Politik, die die Schuld daran trägt, dass wir heute mit leeren Händen vor dieser Herausforderung stehen.«
Jennifer baute sich breitbeinig vor ihm auf, die Hände in die schlanken Hüften gestützt, den Kopf in den Nacken geworfen, und funkelte ihn an.
»Wir haben keinen Beweis«, sagte sie standhaft, »keine Stellungnahme ...«
»Warten Sie auf ein Bekennerschreiben?!«, brüllte Rogers. »Da kenne ich die Halunken aber besser.«
»Dr. Rogers«, versuchte Wiszewsky jetzt glücklicherweise zu schlichten, »Major, ich bitte Sie.«
Die beiden Kampfhähne ließen voneinander ab. Jennifer warf sich herum, dass ihr Pferdeschwanz waagerecht um ihre Schultern flog, und kam zu mir herübergestapft. Plötzlich nahm sie die Rolle der Komarowa ein und ließ sich auf der Armlehne meines Sessels nieder, um sich schmollend an mich zu schmiegen. Ich legte den Arm um sie.
»Gehen wir«, fuhr der Commodore fort, »einmal davon aus, dass es sich wirklich um ein Annihilationsereignis handelt, dass es sich um eine Technologie handelt, die das Phänomen ausgelöst hat, dass die Sineser oder eine andere Macht im Besitz dieser Technologie sind und dass sie entschlossen sind, sie gegen uns einzusetzen ...«
»Das sind gewaltige viele Annahmen«, nörgelte Laertes.
»Was, frage ich Sie, können wir ihr entgegensetzen?«
Laertes sah pfiffig vor sich hin, sagte aber nichts. Er schien sich an der philosophisch unhaltbaren Kette von Voraussetzungen zu weiden, die jeden logischen Schluss zu einer Absurdität verkommen ließen. Frankel und Rogers schwiegen vor sich hin, ebenso Jill, von der man nur ein ängstliches Wimmern hörte. Jennifer hing schniefend an meiner Schulter, während Svetlana unbeteiligt Wiszewskys Haupthaar zupfte. Der Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE sah hilfesuchend von einem zum anderen. Seine Miene spiegelte rasch wechselnd Ratlosigkeit, Zorn, Verzweiflung und Resignation.
Читать дальше