Wir standen vor etwas Unerklärlichem.
»Ein Gra-vi-ta-tions-impuls?«, war Reynolds zu vernehmen. Seine gedehnte Frage kam wie ein Echo, das nach langer Zeit aus einem tiefen Abgrund herauftönt und mit dem schon niemand mehr gerechnet hat. Mit blindem Blick starrte der WO durch uns alle hindurch. »Ich hatte«, schien er zu sich selbst zu sprechen, »eine solche Idee, konnte sie aber nicht weiter verfolgen.«
»Die Aufzeichnungen«, wiederholte Frankel, »zeigen, dass unsere Instrumente eine gravierende Schwereanomalie registrierten, ehe sie sich verabschiedeten.«
Reynolds brütete vor sich hin.
»Vielleicht ein Zeitfenster«, warf Jill in ihrer schrillen Art ein. »Der Impuls hat zu einem Zeitdefekt geführt, sodass der Meteorit scheinbar ganz plötzlich da war. Er war schon zwanzig Stunden auf den Schirmen unserer Vorfeldaufklärung, aber für uns waren das nur zwanzig Sekunden. Haben Sie schon einen Zeitabgleich mit den Jupiter-Stationen durchgeführt?«
Sie quasselte ohne Punkt und Komma und fuchtelte mit ihren knochigen Händen in der Luft herum, dabei stierte sie hysterisch vor sich hin, während ihr Gesicht sich mit hektischen roten Flecken überzog. Es war furchtbar.
Reynolds schüttelte nur den Kopf.
»Halten Sie den Mund, Lambert«, sagte ich grob, was mir wiederum einen strengen Blick von Jennifer eintrug.
»Das Auftreten eines Gravitationsimpulses«, fuhr Reynolds fort, »könnte die Sachlage erklären.«
Er machte allerdings keine Anstalten, uns in seine Gedankengänge einzuweihen. Wie eine Karikatur hockte er da und grübelte vor sich hin. Wir warteten und schwiegen.
»Nun, man müsste das alles noch einmal durchrechnen«, sagte Frankel nach einer Weile. »Wir sind ja bisher kaum darüber hinausgekommen, die möglichen Fehlerquellen auszuschließen und die Datenlage zu verifizieren.«
Reynolds nickte, als sei er im Stillen zu einem Entschluss gekommen.
»Ja«, sagte er, ohne auf Frankel einzugehen. »Es wäre eine Möglichkeit.«
»Lieber Reynolds«, ließ Laertes sich jetzt vernehmen, der zum ersten Mal das Wort ergriff, seit er zu unserer Runde gestoßen war. »Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns an ihren Überlegungen teilnehmen zu lassen?«
Für gewöhnlich war es Sache des greisen Philosophen, ein Ereignis gründlich durchzudenken, wenn er auch eher an den Konsequenzen als an den Details interessiert war.
Er war jahrzehntelang Projektleiter des führenden Institutes für KI gewesen, ehe er sich, von den Unzulänglichkeiten des kybernetischen Bewusstseins enttäuscht, wieder den alten Griechen zugewandt hatte. Zwar hatte er einen Master in Philosophie, bezeichnete sich aber trotzig als Autodidakten. Seit zehn Jahren in Ruhestand versetzt, weigerte er sich, die MARQUIS DE LAPLACE zu verlassen und nahm so Passagier an ihren Einsätzen teil.
Reynolds nickte wieder. Diesmal mochte man eine Zustimmung daraus ablesen und eine Bereitschaft, Laertes' Aufforderung nachzukommen.
»Es gibt da«, sagte er langsam und sehr leise, »dieses Theorem, von zwei Russen. Ich habe mich früher einmal damit beschäftigt ...«
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko«, stimmte Laertes ein. »Aus den Dreißigerjahren. Sie müssen damals noch sehr jung gewesen sein.«
»Die Formulierung des Satzes«, lächelte Reynolds, »fiel in die Zeit vor meiner Geburt. Aber er wurde immer noch diskutiert, als ich die Akademie besuchte. Mehrere Semester lang habe ich mir die Zähne daran ausgebissen.«
Die beiden Schlaumeier, der Alte und der Junge, grinsten versonnen vor sich hin, als hingen sie gemeinsamen Jugenderinnerungen nach.
»Ich habe davon gehört«, machte Rogers grimmig. »Rufen Sie uns kurz ins Gedächtnis zurück, wovon der Satz handelt?!«
»Chessov und Tschernischenko«, wiederholte Reynolds abwesend, »genau. Einer der beiden war, glaube ich, blind.«
Laertes legte den Kopf in den Nacken und fixierte einen ganz bestimmten Punkt an der hohen weißen Decke des riesigen Raumes, in dem es jetzt wieder sehr still war.
»Tschernischenko«, bestätigte er. »Er verlor bei einem Laborversuch das Augenlicht.«
»Und Chessov endete später in der Klapsmühle«, fiel Reynolds wiederum ein, den ich langsam ebenfalls dorthin wünschte. Er stieß ein verächtliches Grunzen durch die Nase aus. »Beides trug nicht unbedingt dazu bei, die Reputation der beiden zu erhöhen und ihre Theorie mit Plausibilität auszustatten.«
Laertes schmunzelte, ohne jedoch den Blick von dem rätselhaften unsichtbaren Punkt fünf Meter über uns zu nehmen.
»Dass ein Geisteskranker Geister sieht«, sagte er, »heißt nicht, dass diese nicht existieren; vielleicht können sie einfach nur von uns Normalen nicht wahrgenommen werden.«
»Und mit solchen geisteskranken Geistern wollen Sie uns aus der Patsche helfen?!«, brauste Rogers auf.
Reynolds nickte ein »Ja, ja, ist ja schon gut!« in den Raum.
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko könnte in der Tat erklären, was hier vorgefallen ist. Ich muss das Theorem nicht näher ausführen, aber wir können es als Modell benutzen. Es vermag zu begründen, warum unsere Instrumente ausfielen, die gegen elektromagnetische Impulse bis zu mehreren Gigaelektronenvolt abgeschirmt sind, und warum Meteore an Raumzeitpunkten auftauchen konnten, an denen sie rechnerisch nicht vorgesehen waren.«
»Dann erklären Sie uns das mal«, sagte Wiszewsky, der während der letzten Minuten verdattert von einem zum anderen gesehen hatte. Jetzt schlug er Svetlanas Hand weg, die gerade sein rechtes Ohr liebkost hatte; das war immer das Zeichen, das er sich besonders konzentrieren musste.
»Mit Erklärungen kann ich da kaum dienen«, nuschelte Reynolds. »Das Theorem konnte bis jetzt weder bestätigt noch falsifiziert werden. Und selbst wenn wir seine Gültigkeit annehmen, beschreibt es nur bestimmte Phänomene, bzw. sagt diese voraus. Realisieren ließen sich diese bisher ebenfalls nicht, und wenn sie eintreten sollten, wüssten wir nicht, warum dies so wäre. Chessovs Satz böte lediglich ein mathematisches Gerüst zu ihrer Beschreibung.«
»Es scheint jedenfalls hinzuhauen«, brummte Dr. Rogers. »Aber ich will natürlich Ihrer Theoriebildung nicht vorgreifen.«
»Wir wissen darüber viel zu wenig«, beschleunigte Reynolds seinen Rückzug. »Unsere Experimente in dieser Richtung haben wir vor mehr als zwei Jahrzehnten eingestellt. Zufällig nahm ich an der Kommissionssitzung teil, die das Ende des unierten Gravitationsprogramms zu beschließen die Ehre hatte, noch bevor dieses irgendwelche Resultate hatte zeitigen können. Ich legte natürlich meinen Protest ein; Sie finden ihn in den Akten des Wissenschaftlichen Rats.«
»Ha!«, brüllte Rogers plötzlich und schmetterte sein Glas auf den Boden. Da es aus bruchfestem Elastil bestand, prallte es zurück und flog in spitzem Winkel durch den Raum. Die Hostess, die sich gerade genähert hatte, um die leeren Behältnisse einzusammeln, suchte ihr Heil in kopfloser Flucht.
»Sie meinen das Annihilationsprogramm?!«, schrie er. »Entschuldigen Sie ...«
Wenn wir das letztere auf seinen Ausbruch gemünzt hätten, wären wir allerdings schief gewickelt gewesen. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und tobte weiter vor sich hin.
»Ich bin die ganze Zeit auf dem Schlauch gestanden«, feixte er und strahlte uns cholerisch an.
»Sie haben recht«, stimmte Reynolds zu. »Das Annihilationsprogramm, zu dem es nie gekommen ist, da es noch vor dem Eintritt in die praktische Phase von der Liste der förderungswürdigen Projekte gestrichen wurde.«
»Und Sie nahmen an der fatalen Sitzung teil?«, fragte Rogers grollend.
»Ich gab meinen Widerstand zu Protokoll«, nickte unser WO ungerührt. »Natürlich wurde ich überstimmt. Es gab nur eine Gegenstimme und ein oder zwei Enthaltungen.«
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