„Nein, nein, ist schon okay. Ich kenne Paul, der ist nicht so wild, wie er aussieht. Wird sich schon alles aufklären.“ Dann ist er weg.
Thomas und ich starren uns schweigend an.
„Ich geh dann auch mal“, murmel ich schließlich. Meine Beine sind schwer, alles in mir sträubt sich, ich will nicht zurück, aber dann bin ich doch wieder in meinem Büro. Die Tür nach nebenan ist nur angelehnt. Ich will nicht lauschen, aber mir bleibt gar nichts anderes übrig.
„Das hast du dir fein ausgedacht! Mich anschwärzen, was? Dich in Amerika lieb Kind machen, was?“ Königsfelds Stimme überschlägt sich, sie klingt hysterisch, gellend, ich muss an eine Hyäne denken, diese Mischung aus schrill und heiser gleichzeitig, nicht, dass ich schon einmal eine gesehen hätte, nur im Fernsehen, ich schaue gerne Tiersendungen, was denke ich hier eigentlich?
Daniel klingt ruhig, fast beschwörend, ein Mann, der einem tollwütigen Hund gegenübersteht. „Paul, jetzt beruhige dich doch, ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst!“
„Jetzt tu doch nicht so! Du scheinheilige Ratte! Fein rumgeschleimt hast du gestern Abend! Nur, um mich in die Pfanne zu hauen! Und dir hab ich vertraut!“
„Paul, ich habe keine Ahnung …“
„Meine Quartalsbilanz! Du hast sie! Aber das nutzt dir gar nichts. Und wenn du sie Big Boss drüben persönlich unter die Nase reibst, ich kann immer noch sagen, dass es eine erste Hochrechnung war und selbstverständlich nicht das endgültige Resultat, ich kann immer noch sagen, dass ich sie so nie rausgeben wollte!“
„Du hast die Quartalsbilanz gefälscht?“
Ich höre geradezu Davids Entsetzen, und auch mir wird eiskalt. Das kann doch nicht sein!
„Jetzt tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest! Ich hatte doch gar keine Wahl, so wie die Amis die Schraube anziehen. Du hast das gleich gesehen, gestern Abend, dass die Zahlen nicht stimmen! Und darum hast du sie dir unter den Nagel gerissen, um denen gleichzeitig die richtigen Zahlen zu geben, damit die mich fertig machen! Du bist doch schon die ganze Zeit scharf auf meinen Posten!“
„Also, ich schwöre …“
„Aber ich kann den Spieß auch umdrehen, oh ja, ich hab immer noch genug Macht, mir wird man glauben! Wer bist du denn schon?“
Ich bin wie betäubt. Bilanzfälschung! Wie konnte Königsfeld so etwas tun? Nun ja, wenn es stimmt, was Hans-Peter gesagt hat, dann wackelt sein Stuhl erheblich. Wahrscheinlich wollte er drüben durch gefälschte Zahlen einen guten Eindruck machen und Zeit gewinnen. Aber es ist so – so unnötig! Und dumm, geradezu kriminell dumm! Meine Güte, wir sind im Plus, es war völlig überflüssig, irgendwelche Zahlen zu manipulieren! Wie kann ein so gewiefter Geschäftsmann wie Paul Königsfeld eine solch hirnrissige Aktion starten?
Weil er verrückt ist, durchfährt es mich, und ich erschrecke bei diesem Gedanken – und dann bricht nebenan die Hölle los. Ein lautes Krachen, Glas splittert, dazu ein Schrei: „Paul, bist du wahnsinnig?“, und gleichzeitig ein geradezu unmenschliches, hysterisches Kreischen: „Dich mach ich fertig!“. Ich sitze hier wie gelähmt, lieber Gott, ich muss etwas tun, was kann ich tun? Ich müsste die Polizei anrufen. Etwas donnert gegen die Wand und dann höre ich, nein das kann nicht sein, das sind Kampfgeräusche, ein Ächzen, ein Poltern, dazwischen Daniels Stimme: „Paul!“, und wieder kracht etwas gegen die Wand, und jetzt springe ich hoch und reiße die Tür zum Nebenzimmer auf.
„Paul, NEIN, NICHT!!!!“ Es ist meine Stimme, die sich da überschlägt, ich schwanke, halte mich am Türrahmen fest. Der Raum ist ein Schlachtfeld, alles voller Splitter, die Scheibe in der Glasvitrine ist zerborsten, auf dem Boden davor liegt der große, schwere Metall-Locher und ich sehe Paul, der Daniel an die Wand gedrängt hat, ich sehe die Schere, direkt an Daniels Kehle und ich sehe Daniel, der versucht, die Schere von sich wegzudrücken, ich sehe seine Hand, von der das Blut tropft.
„Paul, um Gottes willen!“, schreie ich noch einmal, und da blickt Herr Königsfeld hoch, schaut mich an, seine Augen flackern wild. Dann lässt er plötzlich die Schere fallen, sinkt zu Boden, vergräbt das Gesicht in den Händen.
Mit einem Sprung bin ich bei Daniel, er ist kreidebleich, hält seine Hand umklammert.
„Komm hier weg“, sage ich und ziehe ihn durch mein Büro hindurch in meine kleine Kaffeeküche. Ich suche den Verbandskasten, Daniel lässt kaltes Wasser über die Wunde laufen, sinkt dann in meinen Stuhl.
„Er hat mich angegriffen“, flüstert er heiser. „Er hat den Locher nach mir geschleudert. Wenn ich mich nicht gebückt hätte, hätte mir das Ding den Schädel zertrümmert. Und dann ist er mit der Schere auf mich los.“
Ich schaue mir den Schnitt an, er ist nicht tief, und es gelingt mir, die Wunde durch ein Pflaster zu verschließen.
„Ich versteh das nicht. Das ist doch der komplette Wahnsinn! Er hat mich angegriffen, ich meine, so richtig, der wollte mich umbringen …“
„Soll ich die Polizei rufen?“, frage ich, aber er schüttelt den Kopf.
„Ich weiß nicht, nein.“ Er schaut mich an. „Verdammt, es ist Paul! Ich verdanke ihm so viel!“
„Ich weiß, was du meinst. Er ist der König.“
„Daniel?“ Pauls Stimme von nebenan klingt brüchig und uralt. „Daniel? Bist du in Ordnung? Daniel, bitte, ist alles okay? Es tut mir leid, Daniel, bitte. Daniel!“
Es ist herzzerreißend. Daniel und ich schauen uns an, in seinen Augen steht das gleiche Mitleid, das ich auch empfinde. Und Trauer. Vor allem Trauer. Unser König ist gefallen. Wie konnte das geschehen?
„Ich geh zu ihm. Er wird mir nichts tun.“ Ich bin mir da plötzlich ganz sicher. Ich weiß nicht, was das ist, Loyalität, Co-Abhängigkeit, da sollen sich die Psychologen drüber streiten. Ich weiß nur, dass ich ihm jetzt helfen muss, und Daniel weiß das auch.
„Danke.“ Er steht auf. „Ich muss hier erst mal weg. Ich muss nachdenken.“
„Nimm die Notausgangstreppe.“
Er nickt. Wir müssen nicht besprechen, dass wir Stillschweigen bewahren werden. Das wird so sein. Bis auf Weiteres.
Paul Königsfeld sitzt immer noch auf dem Boden. Als ich hereinkomme, hebt er den Kopf, starrt mich an, das Gesicht eine einzige sorgenverzerrte Maske.
„Claudia?“
„Daniel ist in Ordnung“, sage ich schnell.
Die Erleichterung lässt seine Züge entgleisen. „Gottseidank“, stößt er hervor. Er schließt kurz die Augen, dann kommt er auf die Füße, geht schwankend zu seinem Schreibtisch, stützt sich ab. Wir stehen uns gegenüber in diesem verwüsteten Zimmer.
Er räuspert sich, versucht, seine Form wiederzufinden.
„Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen?“, frage ich.
„Ja, das wäre sehr lieb, Frau Endor.“
Wir sind wieder beim Sie. Das ist gut, das erleichtert den Umgang. Denn wir müssen weiter miteinander umgehen, erst einmal.
„Ich mache gleich ein wenig Ordnung“, sage ich und beuge mich runter, um den Locher aufzuheben.
„Danke.“
Da sehe ich eine Papierecke unter der Glasvitrine, ich bücke mich und ziehe ein paar Blätter hervor. Es ist die gefälschte Quartalsbilanz – sie ist wohl gestern Abend unbemerkt darunter gerutscht.
Schweigend lege ich sie auf seinen Tisch.
„Danke“, sagt Herr Königsfeld noch einmal tonlos. Ein König weiß, wann er verloren hat.
BODO MARIO WOLTIRI
Sie schaute aus dem Zugfenster: blühende Bäume, weit entfernte Gehöfte, Autos klein wie Spielzeuge und ganz in der Nähe ein Paar mit Hund – unterwegs in der lauen Frühlingsluft bei strahlendem Himmel. Eigentlich wäre Zafira auch lieber spazieren gegangen. Stattdessen saß sie im ICE, auf dem Weg zu einem Interview. Sie nutzte die knappe Stunde, die der Zug von Köln zum Frankfurter Airport brauchte, um ihre Recherchen zu vervollständigen.
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